Ruhestand:Rocksongs für jede Lebenslage

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Welche Musik würde Franz Schnitzlbaumer bei seinem Abschied vom Kreisjugendring auflegen? Seine Antwort: "Smells Like Teen Spirit" von Nirvana, "Born To Run" von Bruce Springsteen und "Wind of Change" von den Scorpions. (Foto: Florian Peljak)

Nach mehr als 20 Jahren hört Franz Schnitzlbaumer als Geschäftsführer beim Kreisjugendring München-Stadt auf. Er sah sich nicht als Stimme der Jugend, er bereitete ihr die Bühne

Von Janek Kronsteiner, München

Ständig läuft bei Franz Schnitzlbaumer Musik. Aktuell am liebsten die Band Dawes. Im Lied "Quitter" singen die Musiker: "You're gonna have to quit everything, until you find one thing you won't". Für Schnitzlbaumer war "one thing", diese eine Sache, die Geschäftsführung des Kreisjugendring München-Stadt (KJR): Zum Juni geht er nach mehr als 20 Jahren in dieser Funktion in ein Sabbatjahr, anschließend in den Ruhestand. Damit verlässt ein "absoluter Musik-Junkie" das Büro, sagt Anne Rathjens, die Referentin der Geschäftsführung: "Bei jeder Gelegenheit spricht er über Eric Clapton", sagt sie. Doch der 62-Jährige liebt nicht nur die Genreklassiker. Er mag aktuelle Musik, viel Rock, aber auch Hip-Hop. "Nur bei Scooter bin ich ausgestiegen", sagt er.

Als Stimme der Jugend sieht sich Schnitzlbaumer dennoch schon lange nicht mehr. "Ich wollte nur die Bühne dafür bereiten. Die wirklichen Stimmen sind die ehrenamtlichen Jugendlichen und unser Vorstand", sagt der schlaksige Mann. Sein Dialekt verrät seine oberbayrische Herkunft. Beim Sprechen schaut er oft zu Boden, lächelt dabei einladend. Sein Kopf nach unten geneigt, wendet er seinem Gesprächspartner den Haarschopf zu. Dieser ist silbergrau und voll. Alle Haare gleichlang, auf Millimeter gestutzt. "Wenn ich weg bin, dann nutzt das, um alte Zöpfe abzuschneiden, hat er mir gesagt", erzählt seine Nachfolgerin Claudia Caspari. "Macht mal einen richtigen Neustart."

Aber geht das so leicht, nachdem Schnitzlbaumer den Jugendring in München so lange geprägt hat? Welche Herausforderungen hat er in München bewältigt? Was verliert die Jugendarbeit mit seinem Rückzug? Seine Kollegen werden seine Erfahrung vermissen. "Sein Druidenwissen", nennt er es selbst.

Rund eine Stunde Musik jeden Morgen kann Franz Schnitzlbaumer hören, wenn er von seinem Haus bei Wasserburg am Inn in sein Büro in der Paul-Heyse-Straße, nahe des Hauptbahnhofs, fährt. Eine Stunde - das reicht fast für ein ganzes Album. The Pretenders, Bruce Springsteen, Frank Turner. Inzwischen sind alle Alben in Dateiform bei Schnitzlbaumer im Auto. Einige Alben hört er seit seinen frühen Jahren im Jugendzentrum Miesbach. Dort kam der spätere Sozialarbeiter mit dem Kreisjugendring in Kontakt.

Das Programm des Jugendzentrums prägte Schnitzlbaumers Geschmack. Oder prägte doch sein Geschmack das Programm des Jugendzentrums? Donnerstags Kino, freitags Rockdisco, samstags Rockkonzert. Schnitzlbaumer legte oft seine eigenen Platten auf, machte den DJ. Die Jugend für neue Musik begeistern, das war sein Ziel. Geklappt hat das nicht immer. "Als es ganz neu war, legte ich 'Message in a bottle' von The Police auf. Da hat einer sein Bier übers Pult gekippt", erzählt Schnitzlbaumer.

Eigentlich wollte er nicht im Jugendzentrum bleiben: "Zu der Zeit war ich auf einem grün-alternativem Trip. Ich wollte unbedingt in einer Landkommune leben." Landespflege und Ökologie wollte er studieren, doch sein Abiturschnitt reicht dafür nicht aus. So wurde es doch Sozialpädagogik, zunächst im konservativen Eichstätt und dann an der Staatlichen Fachhochschule in München.

Als Praktikant ging er zurück ins Jugendzentrum in Miesbach. Dort blieb er lange und erlebte endlose Querelen mit der lokalen CSU. "Dort sollte ein Trachtenverein und ein Sportverein reichen," sagt Schnitzlbaumer. Dennoch kämpfte Schnitzlbaumer für eine unabhängige Jugendarbeit und errang mit seinem KJR-Vorstand vier Jugendzentren im Landkreis Miesbach.

In München wurde der Austausch mit der Politik leichter. Über die Jahre tat sich der Kreisjugendring mit anderen Trägervereinen zusammen. Heute bündelt der KJR seine politische Kraft mit den anderen Vereinen im Forum "Wir sind die Zukunft". "In den Fraktionen im Stadtrat, egal ob Grün, Rot oder CSU, wird zu unserer Arbeit seitdem mehr genickt", sagt er.

Aber wie wurde aus dem Sozialarbeiter aus Miesbach ein Gesicht in der Münchner Jugendpolitik? 1983 wechselte Schnitzl-baumer nach Neuperlach in eine kooperative Jugendkulturwerkstatt. Die Rolle als Einrichtungsleiter machte ihm Spaß. Er blieb bei der Büroarbeit und sicherte die Strukturen der Jugendarbeit ab. 1989 übernahm Schnitzlbaumer die Verantwortung für die Stätten des KJR im Südosten Münchens als Regionalleiter.

Die Perspektive der Kinder und Jugendlichen hat er trotzdem nie verloren. Eines seiner Hauptthemen sind Ganztagsschulen. 2014 forderte er eine Reform der Ganztagsklassen. Er mahnte, dass die Jugend nicht nur in der Schulbürokratie stattfinden soll. "Noten und Lob von Lehrern reichen nicht aus, um sich zu einem selbstbewussten jungen Menschen zu entwickeln." 2010 kämpfte er mit dem Baureferat gegen Skateverbote, vertrat in der Politik die jungen Skater, die von Erwachsenen mehr und mehr als Lärmbelästigung wahrgenommen werden. Die freie Entwicklung der Jugendlichen lag Schnitzlbaumer schon immer am Herzen. Auch als Geschäftsführer setzte er sich für seine pädagogischen Werte ein.

Dabei war gar nicht abzusehen, dass Schnitzlbaumer die Aufgabe so lange ausfüllt. In den Neunzigerjahren, als der damalige KJR-Geschäftsführer Werner Heimrath erkrankte, übernahm Schnitzlbaumer nach und nach seine Aufgaben. Als er 1999 selbst Geschäftsführer wurde, war er eigentlich schon eingearbeitet: "Das war kein Sprung ist kalte Wasser mehr. Aber es gab schon Leute, die meinten, ich sei zu jung." Werner Heimrath ging kurz nach der Übergabe in den Ruhestand. Kurz darauf starb er an einem Herzinfarkt. "Als junger Chef eine Grabrede für meinen Vorgänger halten, war eine meiner schwersten Aufgaben," sagt Schnitzlbaumer heute.

Eine weitere Herausforderung wartete Anfang des neuen Jahrtausends. Die Stadt kürzte dem KJR ein Viertel des Budgets. Schnitzlbaumer vereinbarte mit dem Personalrat einen Sozialplan, kündigte Mitarbeitern, schloss Abteilungen. Jugendzentren sollten erhalten bleiben, also wurden Gehälter gekürzt. "Anschließend haben drei Leute die Arbeit von Vieren gemacht." Eine Feuerprobe. Und eine "bittere Pille" in der teuren Stadt München, sagt Schnitzlbaumer der Süddeutschen Zeitung im August 2003.

Eine ganz neue Herausforderung ereilte den KJR, als 2015 Tausende Geflüchtete nach Deutschland kamen. Der KJR übernahm die Verantwortung für viele unbegleitete minderjährige Geflüchtete. Improvisierte Unterkünfte wurden im Internationalen Camp "The Tent" im Kapuzinerhölzl errichtet, das der KJR seit den Olympischen Spielen 1972 jeden Sommer betreibt. Die Arbeit mit jungen Geflüchteten ist bis heute ein großes Aufgabenfeld des KJR. In der Arbeitszeit schlürft Schnitzlbaumer täglich einen öligen Espresso. "Der ist so stark, das ist schon krass", witzelt Claudia Caspari, seine Nachfolgerin. Wenn er seine Leberwurstsemmel zum Mittag nicht bekommt, sei die Laune schnell im Keller, sagt Gerhard Mayer, ein langjähriger Weggefährte. Das Arbeitsklima leidet nicht darunter. Lockere Gespräche, sich duzen und stetige Hilfsbereitschaft gehören zu Schnitzlbaumers Philosophie als Chef. Doch auch, wenn die Lockerheit in der Pandemie fehlt, strahlen seine Ideale immer noch aufs gesamte Team aus, findet Claudia Caspari: "Er hat eine ganz tiefe Haltung, dass wir hier eine wichtige Arbeit machen. Diese Kultur wird hier gelebt. Das müssen wir erhalten."

Professionell und in der Politik akzeptiert: Schnitzlbaumers Werte prägten die Jugendarbeit im Münchner Kreisjugendring. Der größte Beweis für den Erfolg seiner Arbeit erbrachte der Münchner Stadtrat Anfang 2020: Am 4. Februar beschlossen die Fraktionen das Jugendzentrum im Westend neu zu bauen. Mehr als 30 Millionen Euro nimmt die Stadt dafür in die Hand. "Nach zehn Jahren Vorarbeit war das einer der schönsten Momente für mich", sagt Schnitzlbaumer.

Kurz vor seinem Ruhestand im Juni feiert Schnitzlbaumer seinen 63. Geburtstag. Eine große Party ist utopisch, die Coronapandemie lässt das nicht zu. Doch welche Musik würde er bei seinem Abschied auflegen? "Smells Like Teen Spirit" von Nirvana, "Born To Run" von Bruce Springsteen und "Wind of Change" von den Scorpions. "Da krieg ich Gänsehaut, obwohl es so abgedroschen ist", sagt Schnitzlbaumer. Aber das ist in Ordnung für eine Abschiedsfeier.

© SZ vom 27.05.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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