Rettungsdienst auf dem Oktoberfest:Hindernisparcours mit Bierleiche

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Wiesn Selbstversuch Bea Wild mit den Sanitätern unterwegs ,30.September 2013, Foto : C : Stephan Rumpf (Foto: Stephan Rumpf)

Übermäßiger Alkoholgenuss, Platzwunden von Maßkrügen, Bierbankstürze: Der Sanitätsdienst auf dem Oktoberfest hat alle Hände voll zu tun. Unsere Autorin war einen Abend lang Rettungshelferin auf der Wiesn.

Von Beate Wild

Die Frau ist völlig aufgelöst und weint vor Schmerzen. Drinnen im Zelt grölen gerade 5000 Bierselige den Tote-Hosen-Kracher "Tage wie diese". Die Stimmung in der Schützenfesthalle kocht, doch wir sind nicht zum Spaß hier. Das Team 4 der Wiesn-Sanitätsstation, mit dem ich an diesem Abend auf dem Oktoberfest unterwegs bin, steht vor dem Zelt und behandelt eine junge Frau. Sie ist beim Tanzen von der Bierbank gestürzt und hat sich am Fußgelenk verletzt. Drei Maß hat sie an dem Abend getrunken, darunter kann der Gleichgewichtssinn schon mal leiden.

Während wir ihr eine Bandage anlegen, bringen zwei Sicherheitsleute einen weiteren Patienten aus dem Zelt. Er ist gekleidet wie ein Funkenmariechen: kurzer Rock und Strapse, tiefer Ausschnitt auf behaarter Brust, blauer Lidschatten, knallrote Lippen, blonde Zopfperücke. Ein Engländer, der mit Freunden auf der Wiesn seinen Junggesellenabschied feiert. Beim heftigen Zuprosten ist der Maßkrug zu Bruch gegangen, er hat sich die Hand aufgeschnitten. Mein Team funkt die Sanitätsstation um Verstärkung an. Der verunglückte Bräutigam nimmt es mit Humor. Als er sieht, wie wir die Frau mit dem verletzten Knöchel abtransportieren, deutet er lachend auf die Liege und sagt: "It wasn't me".

Kaum haben wir die gestrauchelte Wiesn-Besucherin auf der Station abgegeben, schrillt schon wieder der Alarm. Über der Einsatzzentrale blinkt die Zahl 4. Wir sind wieder dran. Im Hinauslaufen holt Tragenführer Markus Englmeier noch schnell einen Zettel mit den Koordinaten ab, er ruft mir und den anderen drei Teamkollegen zu: "Ein Moritz!". Dann geht es schon hinaus auf die Theresienwiese mit der Sanitätsliege, die im Insiderjargon "gelbe Banane" genannt wird. Erst zwei Stunden und drei Bierleichen später, als ich mich schon wundere, dass nun schon wieder ein Patient mit dem Namen Moritz abgeholt werden soll, werde ich unter schallendem Gelächter meiner Kollegen erfahren, dass Moritz ein Codewort für Alkoholvergiftung ist.

Im Laufschritt geht es über die Festwiese. Wir umkurven torkelnde Italiener, knutschende Pärchen, pöbelnde Lederhosenträger, Pfützen mit Erbrochenen, Glasscherbenhaufen, kichernde Freundinnen und im Weg liegende Zeitgenossen. Dazu brüllen wir unaufhaltsam "Vorsicht! Achtung! Obacht!", schubsen Besucher, die renitent oder schwer von Begriff nicht zurückweichen wollen, mehr oder weniger sanft aus der Fahrbahn und wehren ständig Betrunkene ab, die sich witzig vorkommen und "Taxi" oder "Darf ich mitfahren?" rufen.

Der Weg zum Einsatzort erfordert Konzentration, Geschicklichkeit und Ausdauer. Zudem muss man aufpassen, dass man die "gelbe Banane" möglichst geschickt durch die Menge bugsiert, ohne gleich einen weiteren Patienten zu produzieren.

Unser Patient ist ein Mann, 75 Jahre alt. Er ist vor dem Zelt einfach auf den Boden geknallt. Nun sitzt er auf einer Treppe und kann nicht mehr geradeausschauen. Er nuschelt beachtlich, kann nicht mehr angeben, was eigentlich passiert ist. Sein Kumpel muss für ihn sprechen. Fünf Maß habe der Mann getrunken, dann sei er umgefallen. Der medizinische Verantwortliche des Teams, Dennis Rubinstein, und die beiden Rettungshelfer Teresa Schaich und Thomas Molzbichler untersuchen den Mann auf äußerliche Verletzungen und messen Puls und Blutzucker. Diagnose: Ein erhöhter Blutdruck und die fünf Maß haben wohl ihr Übriges getan, den Mann aus dem Gleichgewicht zu bringen. Da auch der Freund des Patienten sichtlich angetrunken ist, beschließt das Team, den Mann mitzunehmen. Durch den Trachten-Hindernisparcours geht es zurück zur Station. Dort wird der 75-Jährige in einen Ausnüchterungsraum gebracht, wo er auf einer Liege seinen Rausch ausschlafen darf.

8159 Patienten hat das Bayerische Rote Kreuz (BRK) im vergangenen Jahr auf dem Oktoberfest behandelt, darunter kleinere Hilfsleistungen wie Pflaster anbringen oder Kopfschmerztabletten ausgeben genauso wie die Versorgung von Wunden oder die Behandlung nach übermäßigem Alkoholgenuss. Tausend ehrenamtliche Sanitäter arbeiten auf der diesjährigen Wiesn. An die 2500 Mal rücken die Teams mit der "gelben Banane" aus.

Unser nächster Einsatz ist ein junger Mann, der von der Security aus dem Zelt geworfen wurde, weil er stark betrunken randaliert hat. Als er trotzdem nicht gehen will, schaltet der Sicherheitsdienst die Polizei ein. Und diese ruft wiederum die Sanitäter hinzu, da der Mann wie ein nasser Sack auf dem Boden liegt und sich weigert aufzustehen. Da ihm nach einem kurzen Check jedoch offensichtlich nichts anderes fehlt, als dass er zu viel Bier konsumiert hat, wird er statt auf die Sanitätsstation zur Polizeiwache gebracht. Weil bei dem Mann die Geldbörse einer Frau gefunden wurde, wollen die Beamten überprüfen, ob er diese möglicherweise gestohlen hat.

Während wir auf unseren nächsten Einsatz warten, gibt es im Gemeinschaftsraum des BRK Spaghetti Bolognese und Kuchen. Schnelles Essen ist angesagt, denn bis der nächste Gong ertönt und auf der Anzeigetafel wieder die 4 aufleuchtet, dauert es nicht lange. Wenn ein Team von seinem Einsatz zurückkommt, meldet es sich bei der Leitung wieder einsatzbereit und wird in die Warteliste eingereiht. Je später die Stunde, desto kürzer die Abstände bis zum nächsten Einsatz.

Reporterin Beate Wild mit schielendem Stofftier auf der "gelben Banane". (Foto: Dennis Rubinstein / oh)

Dann gongt es wieder, der nächste Patient wartet auf uns. "Langstrecke" grinst der Einsatzleiter und schickt uns zur Fischer Vroni. Wieder ein Moritz. Als wir dort ankommen, haben die Security-Männer schon einen Krankenwagen gerufen, der Mann wird direkt in eine Klinik abtransportiert. Wir sind umsonst hingelaufen. Doch dann rauscht das Funkgerät von Tragenführer Englmeier: Unser nächster Fall ist gleich im Zelt nebenan, in der Ochsenbraterei. Dort ist ein Mann durch einen Maßkrug am Kopf verletzt worden. Wir hechten hinüber. Er sitzt vor dem Zelt, sein Kopf blutet. Rubinstein erklärt ihm, dass es besser für ihn ist, wenn er mitkommt. Nur durch ein Röntgen des Kopfes im Krankenhaus kann abgeklärt werden, ob dem Mann nichts Schlimmeres fehle. Nach einiger Diskussion lässt er sich überzeugen.

Meine Aufgabe im Team besteht aus Handlangertätigkeiten. Ich darf die "gelbe Banane" schieben, mal den Protokollblock halten, aufdringliche Schaulustige abwehren und verzweifelte Freunde der Verletzten beruhigen - aber das ist für mich schon aufregend genug. Alle Rettungskräfte, die auf dem Oktoberfest Einsatz schieben, sind Ehrenamtliche. Tragenführer Englmeier und Helferin Schaich sind vom BRK Planegg, der medizinische Verantwortliche Rubinstein vom BRK Starnberg und Helfer Molzbichler ist vom Österreichischen Roten Kreuz, das an diesem Abend extra aus Kärnten fünf seiner Leute geschickt hat.

Als wir etwas später nach einem erneut ergebnislosen Ausrücken - ein alkoholisierter Patient ist vor unserem Eintreffen geflüchtet - an einer Schießbude vorbeikommen, schenkt uns ein Mitarbeiter ein kleines, schielendes Stofftier. Voller Begeisterung befestigen es die Kollegen mit Klebeband oben auf der "gelben Banane". Zahlreiche Besucher bleiben stehen und machen Fotos von uns und dem lustigen Tierchen.

"Heute ist ja Montagabend, deshalb ist es so ruhig", sagt Rubinstein. An den Wochenenden gehe es noch mal anders zu. Je mehr Besucher, desto mehr Patienten. Und auch das Wetter spielt eine Rolle: Bei warmen Temperaturen kommen mehr Gäste auf die Theresienwiese, was wiederum die Einsätze erhöht. "Vor allem sind dann viele mit Flipflops oder Ballerinas unterwegs, da schneiden sich die Leute reihenweise die Füße mit den Glasscherben auf", erklärt Schaich. Auch Sneakers seien für einen Einsatz mit den Sanitätern absolut ungeeignetes Schuhwerk, meint sie, mit Blick auf meine Turnschuhe. Die Rettungskräfte selbst tragen Stahlkappenschuhe, die sind unverwüstlich.

Dann der nächste Einsatz: Auf einer Parkbank in U-Bahn-Nähe sitzt ein Mann, völlig in sich zusammengesackt. Vor ihm eine beachtliche Pfütze mit Erbrochenem. Nach einer Untersuchung seines Blutzuckerspiegels schnell fest: Der Mann ist Diabetiker und hat wohl seit Stunden vergessen, sich Insulin zu spritzen - außerdem hat er kräftig über den Durst getrunken. Als er mit zur Station kommen soll, wird er ungehalten und fängt an, die Rettungshelfer zu beschimpfen. Es ist nichts zu machen, nach längeren Diskussionen wankt er mit seinem ebenfalls stark alkoholisierten Kumpel von dannen. Als wir die Ausrüstung zusammenpacken, müssen wir feststellen, dass uns während des Einsatzes unser schielendes Stofftier geklaut worden ist.

Kurz vor Ende der Nacht nähert sich dann noch ein Mann, klopft auf unsere Liege und ruft: "Günni, bist du da drin?". Doch lange muss er nicht vom Gegenteil überzeugt werden, denn besagter Günni kommt wenige Minuten später im Zickzackkurs hinter ihm um die Ecke gebogen. Alle lachen.

Die Einsatzleitung koordiniert die Einsätze und schickt die Teams über die Theresienwiese. (Foto: Stephan Rumpf)

"Privat gehe ich nur noch selten auf die Wiesn", sagt Trageführer Englmeier. "Man sieht das Oktoberfest mit anderen Augen." Die anderen nicken zustimmend. Allein während des Abends bewältigt unser Team insgesamt zehn Einsätze. Darunter fünf Mal Moritz, zwei verknackste Knöchel, eine durch einen Maßkrug entstandene Platzwunde am Kopf und zwei Patienten, die noch vor unserem Eintreffen die Flucht ergriffen haben.

Als um ein Uhr nachts der Einsatz endet, haben die ehrenamtlichen Rettungskräfte 17 Stunden Dienst hinter sich, während ich nach nur acht Stunden bereits am Ende meiner Kräfte bin.

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