Porträt:Der Klangforscher

Lesezeit: 4 min

Aus der Not heraus die "Laptop-Gitarre" erfunden: Musiker Gunnar Geisse mit seinem Setup bei der Arbeit. (Foto: Werner Siebert)

Gunnar Geisse musste schwere Rückschläge im Leben ertragen. Doch diese Schwierigkeiten brachten den Münchner Avantgarde-Musiker in seiner Kunst stets weiter

Von Oliver Hochkeppel, München

Eigentlich verblüffend, dass es noch kein Fernseh-Porträt über den Musiker Gunnar Geisse gibt. Nicht nur, weil er mit seiner Brille und seinen langen wilden weißen Haaren schon äußerlich dem Prototyp des zerstreuten Musikprofessors nahekommt. Sondern vor allem, weil seine Biografie Brüche hat, wie sie Fernsehredaktionen lieben. Brüche, ohne die er aber wohl nicht einer der interessantesten und - auch wenn das nicht allgemein bekannt ist - wichtigsten Experimentalmusiker der Republik geworden wäre. Als der präsentiert er sich auf dem soeben bei Neos erschienenen Album "Triptych" wieder einmal eindrucksvoll. Doch der Reihe nach.

Als Gunnar Geisse 1962 in Gießen geboren wurde, war ihm die Musik vielleicht schon in die Wiege gelegt worden. Denn der Vater hatte einst Dirigent werden wollen, was dann der Krieg vereitelte. Dafür spielte er nun zu Hause Klavier, wann immer es ging, und vermittelte so den vier Söhnen die Liebe zur Musik. Zwei landeten dann zwar bei der Physik (die mehr mit Musik zu tun hat als viele glauben): der eine wurde Informatik-Professor und schreibt seine eigenen Betriebssysteme, der andere Teilchen-Physiker am CERN in Genf. Gunnar freilich wollte früh Berufsmusiker werden und gründete mit dem jüngsten Bruder eine Band, die bald oft in Gießen und Umgebung auftrat.

Das Konventionelle interessierte ihn schon damals nicht besonders, Sturm und Drang waren angesagt. "In Moers sah ich Ornette Coleman, wie er einem auf die Bühne geschleppten Sarg im Disko-Glitzeranzug entstieg, um dann mit seinem Double Quartet wilde Sachen zu spielen. Etwas in der Art wollten wir bei einer Outdoor-Festival-Competition auch gleich machen; wir kauften uns Plastik-Saxofone und improvisierten los. Das hat uns zwar den letzten Platz eingebracht und fast eine Schlägerei im Publikum ausgelöst, aber von da an wusste ich, was ich in meinem Leben machen wollte: Genau das! Das war die absolute Befreiung." Für diese Freiheit hieß es allerdings zunächst hart arbeiten. Die Gitarre von Grund auf zu lernen, diese Hürde legte sich Geisse auf. Weil er schon damals keine Genre-Grenzen mochte, blieb nur das Münchner Gitarreninstitut (MGI), das nach der Methode des Guitar Institute of Technology (GIT) in Los Angeles lehrte.

Als Geisse 1985 mit dem Studium fertig war, blieb er in München. Einmal wegen der Verdienstmöglichkeiten, später hielt ihn dann auch Christiane Böhnke hier, die seine Frau werden sollte - und mehr als 20 Jahre lang der gute Geist der Unterfahrt war; inzwischen verantwortet sie das Musikprogramm im Schwere Reiter. Jedenfalls gab es damals in den Achtzigern für Gitarristen noch reichlich Jobs. Im Studio für Plattenproduktionen, Film, Funk und Fernsehen. Als Tour-Mietmusiker, oft etwa war Geisse mit dem New York Broadway Ensemble Europa-weit unterwegs. Außerdem spielte er als Sideman in Blues- oder Rockbands und brachte seine eigene Band Brother Virus beim Enja-Label unter sowie in die Säle von der Münchner Philharmonie bis in die legendäre New Yorker "Knitting Factory". "Ich war also ein richtiger Berufsmucker mit allem, was dazugehört", sagt er heute.

Dann aber kam der 29. Dezember 1992, als ihm seine zweite Leidenschaft fast zum Verhängnis geworden wäre. Beim Klettern in Spanien löste sich ein mannsgroßes Stück vom Felsen, das ihm Mittel- und Ringfinger abriss. 16 Operationen retteten ihm den Zeigefinger und die restliche Hand. Einerseits eine Katastrophe, andererseits auch "eine Erleichterung", wie er sich erinnert: "Ich war damals in eine unglaubliche Mühle geraten mit vielen Sachen, die ich gar nicht machen wollte. Jetzt war ich auf einmal frei."

Geisse begann intensiv zu komponieren, noch im Krankenhaus schrieb er (buchstäblich mit links) ein Streichquartett und ein Orchesterstück; er vertiefte sich in Mikrotonalität, schrieb Stücke für bis zu 200 Gitarristen (im Jahr 2000 unter dem Titel "Atem" als Album erschienen) und forschte auf Einladung der Uni Magdeburg mit Physikern über "Nichtlinearität und Strukturbildung in der Musik". Bald freilich wollte er auch wieder spielen und hören, was er da komponierte und erforschte, und landete wieder bei der Gitarre. So wie ein Django Reinhardt mit nur drei Fingern zu einem der größten Virtuosen wurde, so ging es auch bei Geisse erst richtig los, nun zusätzlich mit klassischer Gitarre. 1995 fing er am Gärtnerplatztheater als Gitarrist an, viele Konzerte, auch als Solist, und mit vielen Sinfonieorchestern folgten, in kleineren Besetzungen spezialisierte er sich auf Neue Musik, vertiefte aber auch mit extended techniques sein Improvisationsspiel. Kaum eine Kollegin und ein Kollege aus der Avantgarde, mit der oder dem er nicht gearbeitet hätte, ob Jan Bang, Marc Ducret, Bill Elgart, Barry Guy, Kalle Kalima, Susan Alcorn, Markus Stockhausen oder Lauren Newton. Bis 2006 der zweite, für ihn fast schlimmere Tiefschlag kam: eine schwere, fortan chronische Sehnenscheidenentzündung, die die linke Griffhand lahmlegte: "Da hatte ich genug von der Gitarre, und sie anscheinend auch von mir."

Von der Musik freilich konnte und wollte er nicht lassen. Der Computer sollte ihm nun die ganze Welt der Klänge eröffnen. Mithilfe seiner Brüder, befreundeten Wissenschaftlern und Musikern plus bahnbrechender Software wie "Melodyne" und "Midi Guitar" schloss sich vor ein paar Jahren der Kreis: Von fremden ging es über eigene Samples bis zum virtuellen Instrument durch Audiodaten-Spektralanalyse in Echtzeit. Schließlich erschuf er durch die neuerliche Integration seiner alten Liebe in die digitale Klangerzeugung die "Laptop-Gitarre". Damit hat Geisse ein eigenes Instrument mit allen Möglichkeiten eines Orchesters erfunden, das obendrein seine ureigene, auf berechneten Teiltonfeldern bestehende Harmonik beherrscht - die herkömmliche Harmonik hatte er schon nach seinem Kletterunfall als "obsolet" und "abgefeiert" empfunden.

Ob er das wie vor drei Jahren auf dem Doppelalbum "The Wannsee Recordings" frei improvisierend nutzt oder wie jetzt auf "Triptych" die Strukturen eines Klavierkonzertes (beziehungsweise der Geschichte des Klavierkonzertes) und von "Rhythm Changes" unterlegt - das Ergebnis ist stets ein forderndes Gesamtkunstwerk zwischen Moderner Klassik, Jazz-Avantgarde und Noise. Zwischen analog und digital, zwischen Analytischem und Spontanem und zwischen Apollinischem und Dionysischem. Und so zerstreut genial, wie schon sein Schöpfer aussieht.

© SZ vom 17.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: