Aloun Phetnoi Ferzandi war elf Jahre alt, als er zum ersten Mal das kennenlernte, was ihn später retten sollte, wie er selbst sagt: "Ohne den Hip-Hop wäre ich im Drogensumpf gelandet." Dazu muss man wissen, dass Ferzandi unter "Hip-Hop" mehr versteht als zum Beispiel jemand, der nicht schon seit mehr als 20 Jahren in der Münchner Szene aktiv ist. "Sprayen, Rappen, DJ-en und Breaken - das sind die vier Elemente des Hip-Hop."
Erst das Zusammenkommen von Graffiti-Kunst, Sprechgesang, Plattensampeln und Breakdance ist Hip-Hop-Kultur für Ferzandi. Nur Rappen, was heutzutage weithin unter dem Schlagwort Hip-Hop verstanden wird, ist ihm zu wenig. Früher, erinnert er sich, gab es noch Jugendzentren in München, die sogenannte Hip-Hop-Jams feierten, bei denen alle Elemente zusammenkamen. "Solche Anlaufstellen gibt es heute nicht mehr." Überhaupt habe sich die Hip-Hop-Szene in den letzten Jahrzehnten stark verändert, in seinem Viertel, in München und weltweit. Nur das Grundprinzip im Hip-Hop ist immer gleich geblieben: "Aus dem Nichts etwas erschaffen - das hat mich der Hip-Hop gelehrt."
Aufgewachsen ist Ferzandi im Hasenbergl. Mit wenig Geld, wenig Perspektive. Das Viertel war damals noch ein härteres Pflaster als heute. "Wir hingen halt am Spielplatz ab, und irgendwann hat einer gesagt: 'Lass in die Stadt fahren und Geldbörsen klauen.'" Also fuhren sie in die Stadt. Das sei seine Jugend gewesen. "Wir hatten ja keine Erwachsenen oder Mentoren, die mal gesagt haben, schmeißt das Leben nicht weg."
Ein wenig scheint es so zu sein, als wolle Ferzandi heute diese Rolle für Jugendliche übernehmen - wenn zum Beispiel zwei Jugendliche vor seinem Tanzstudio an der Weißenseestraße 101 stehen. Lässige Begrüßung, kurzer Smalltalk - man kennt sich. Ob sie einfach ein bisschen tanzen könnten, fragen die beiden. Klar öffnet Ferzandi da seine Tür. Doch selbst eine Anlaufstelle für die heranwachsende Münchner Hip-Hop-Szene sein, das will er nicht: "Das sollen andere machen." Ferzandi ist inzwischen 37 Jahre alt, hat drei kleine Kinder. Seine wilderen Zeiten liegen hinter ihm.
In den Sommerferien besuchte Ferzandi als elfjähriges Kind seinen Cousin in Berlin. So lernte er die Graffiti-Kunst kennen. Danach gab es für ihn nichts anderes mehr, "ich war immer auf der Suche nach Hip-Hop." Vielleicht auch weil der Hip-Hop etwas bot, was er zuvor nur suchte. "Die Szene, ich mein', das ist wie eine Familie." Im Zeugnerhof, einem Jugendzentrum in Berg am Laim, fand er schließlich den Hip-Hop in München, ein zweites Zuhause. Wieder dank eines Graffiti. An einer Wand des zum Jugendzentrum umgebauten Bauernhofs sah er eine Arbeit von Loomit. Sein Gedanke damals: "Woah, geil, hier bist du richtig." Loomit heißt bürgerlich Mathias Köhler und gilt als einer der bedeutendsten deutschen Graffiti-Künstler, damals wie heute.
Astrid Weindl, damals Jugendleiterin vom Zeugnerhof, erinnert sich gut an den jungen Ferzandi. Auch weil die beiden noch heute Kontakt haben. "Der Aloun ist einfach einer meiner Lieblinge", sagt sie. Wenn die inzwischen pensionierte Weindl über Ferzandi redet, kommt sie regelrecht ins Schwärmen. Sie kenne wenige mit so einer menschlichen Wärme, so einem Herz und Feingefühl. "Das finde ich an ihm faszinierend".
Wenn ein Projekt anstehe, bei dem sie Unterstützung braucht, sei Ferzandi sofort dabei. Mit Ideen und Einsatz - ehrenamtlich. "Er fragt nicht mal, ob oder wie viel Gage er bekommt." Es schwingt bei Weindl so etwas wie mütterliche Liebe mit, wenn sie erzählt.
Eine Herzlichkeit, die Ferzandi erwidert. Wohl auch, weil er letztlich dank Weindl zum Breaken kam, wie Weindl ein wenig stolz erzählt. Sie stellte ihn einer Gruppe von BBoys - wie die Breakdancer sich selbst nennen - vor, die regelmäßig im Zeugnerhof probten. Zunächst war Ferzandi skeptisch: "Ich dachte, ich bin ja null beweglich." Trotzdem besuchte er damals eine Probe. Auch weil er die Worte seines Cousins im Ohr hatte: "Du bist erst ein Hip-Hoper, wenn du einen Rapper, einen DJ, einen Sprayer und einen Breaker kennst." Einen Breaker kannte er damals noch nicht. Heute verdient er mit dem Tanzstil sein Geld. Doch bis es soweit kommen sollte, tanzte er regelmäßig Straßenshows auf dem Marienplatz. "Vom ersten Glockenspiel bis um fünf Uhr nachmittags." Die Geldstücke reichten, um die Reisen zu Hip-Hop-Jams in ganz Deutschland und Europa zu finanzieren.
Jams feiern die Hip-Hop-Kultur, bieten Raum für alle vier Elemente des Hip-Hop. Damals habe er noch "die Reste vom McDonald's gegessen" oder in den "Kofferschließfächern am Hauptbahnhof" übernachtet. Egal, Hauptsache Hip-Hop - "immer auf der Suche", immer auf Reisen. Heute holten sich die Jugendlichen ihre Einflüsse auf YouTube. "Das ist auch voll o.k.", sagt Ferzandi.
Aber so recht glaubt man ihm das nicht. Schließlich fällt dadurch das weg, was ihm in der Szene viel bedeutet. Das Familiäre, im Zug zur nächsten Jam sitzend freestylen - also Reime improvisieren - wird dann halt durch das einsame Video-Schauen im Internet ersetzt.
Was mit Straßenshows begann, führte Ferzandi letztlich auf die Kinoleinwand. Als breakdancender Elvis-Imitator in der Western-Komödie "Der Schuh des Manitu" von Michael "Bully" Herbig. Die Zeiten des Resteessens bei der nächstbesten Fastfood-Filiale waren vorbei. Trotzdem "war das Kommerzielle nicht so interessant", sagt er. Mit der "Scheinwelt" habe er nie so viel anfangen können. "Ich wollte immer in die Jugendzentren." Hip-Hop sei ja eigentlich "so ein Underground-Ding", eben Straße und nicht Penthouse.
Und doch wird inzwischen mit der einstigen Underground-Kultur eine Menge Geld verdient. Vor allem mit dem gängigen Klischee des Gangster-Rappers, das heute von vielen Künstlern wie zum Beispiel der Hamburger Gruppe 187 Straßenbande zelebriert und vermarktet wird. Das ist aber nicht mehr Ferzandis Hip-Hop. Gewalt, Drogen oder Alkohol sind für ihn nur ein modernes Zerrbild des Hip-Hops. "Zulu Nation", die Strömung in der Szene, mit der er sich identifiziert, entstand in den 1970er Jahren um den New Yorker DJ Afrika Bambaataa. Während sich in den USA die verschiedenen Gangs gegenseitig in blutigen Straßenschießereien bekämpften, wollte die Zulu Nation die Konflikte zwischen den Gangs zum Beispiel auf der Tanzfläche bei Breakdance-Wettkämpfen austragen. Wettbewerb, "competition", gehöre zum Hip-Hop, aber friedlich solle er sein, sagt Ferzandi. Während im Gangster-Rap Drogenkonsum zur selbsterfüllenden Prophezeiung des Genres wurde, lehnen die Mitglieder der Zulu Nation alle Drogen ab. Deswegen habe er als Jugendlicher zum Beispiel eine Zeitlang eine Skibrille getragen. "Die Skibrille gegen den Schnee, also gegen das Koks."
In den vergangenen zehn Jahren ging es Ferzandi ruhiger an. Vor drei Jahren kam sein Sohn auf die Welt, zwei Töchter folgten. Er eröffnete unter dem Namen seiner Breakdance-Gruppe "step2diz" ein Tanzstudio in Obergiesing, vor Kurzem ein zweites in Haidhausen. Um nicht mehr so oft auf Reisen zu sein; der Kinder wegen. Doch eigentlich verdiente er in den vergangenen Jahren vor allem als spezialisierter Sport-Lehrer an verschiedenen Münchner Schulen sein Geld. Auch wenn er mal verletzt war, erzählt er. Als er auf Krücken den Tanzunterricht für eine 9. Mittelschul-Klasse geben soll, hörte er zunächst leises Raunen unter den Schülern. "Du, Krüppel", sagte ein Schüler, erinnert sich Ferzandi. Daraufhin warf er seine Gehhilfen auf den Boden - beim Erzählen zeichnet er mit den Händen die Wegwerfbewegung nach - und drehte sich einfach auf dem Kopf. "Helikopter" heißt die Figur. Ein "Powermove", der Eindruck schindet, auch bei einer Klasse pubertierender Jugendlicher. In der Folge habe er den Unterricht sitzend mit seinen Krücken dirigiert. Da ist es wieder, dieses Prinzip, das Ferzandi so wichtig ist. Aus Nichts etwas erschaffen. Notfalls eben auch mit weniger, als man eigentlich dafür bräuchte. "Das hat mich der Hip-Hop gelehrt."