Polizeiausbildung in Bayern:Wie viel Gewalt im Einsatz erlaubt ist

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Polizisten beim Einsatz nach einem Fußballspiel. (Foto: Johannes Simon)

Prügel vom Polizeichef, ein Faustschlag ins Gesicht und rabiate Umgangsformen: Das Image der bayerischen Polizei ist beschädigt. Im Ausbildungszentrum trainieren angehende Polizisten, wie sie sich in Stresssituationen verhalten müssen. Und stellen die Frage, wie viel Zwang beim Einsatz zulässig ist.

Von Florian Fuchs

Vielleicht muss man die Geschichte vom stolpernden Fußgänger kennen, um das Verhältnis zwischen Polizei und Bürgern besser zu verstehen. Der Fußgänger spaziert über einen Gehsteig, plötzlich stolpert er über eine hervorstehende Bodenplatte. Idioten von der Stadtverwaltung, denkt sich der Fußgänger, können die nicht den Bürgersteig in Ordnung halten? So ein Depp, denken dagegen Passanten, die ihn beobachtet haben: Kann der nicht besser aufpassen?

In der Psychologie ist der stolpernde Fußgänger ein beliebtes Bild, um den Unterschied zwischen Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung zu verdeutlichen. Ausbilder Anton Meindl sitzt in einem Gemeinschaftsraum bei der Bereitschaftspolizei in Dachau auf einem Holzstuhl und nutzt das Gleichnis, um klarzustellen, dass bei Polizeischülern jedes Einsatztraining auf korrektes Verhalten hinterfragt wird: Glaubt der Schüler, bei einer Verkehrskontrolle souverän und bestimmt, aber trotzdem höflich mit dem genervten Bürger umgegangen zu sein? Und deckt sich die Einschätzung mit den anderen Auszubildenden, die im Training die Passanten darstellen?

Man kann die Geschichte vom Fußgänger aber auch ein Stück weiterdenken und als Synonym für das Verhältnis von Polizei und Bürgern insgesamt sehen. Es droht nämlich gerade ein wenig auseinander zu driften. Innenminister Joachim Herrmann hat vor kurzem eine Statistik vorgelegt, wonach die Gewalt gegen Polizeibeamte deutlich ansteigt.

Bulle statt Freund und Helfer

Polizisten sehen das so: Sie wollen Freund und Helfer sein, deshalb haben sie ihren Beruf ausgesucht. Aber auf Streife werden sie oft grundlos als Bullen bepöbelt und von Randalierern angegriffen. Im Hinterkopf zahlreicher Bürger dagegen hat sich die öffentliche Debatte über Polizeigewalt eingebrannt: Rosenheim, Regensburg, der Fall in der Münchner Wache in der Au. Wenn Passanten also jetzt sehen, wie Polizisten einen pöbelnden Randalierer zur Räson bringen wollen, dann sind sie gleich alarmiert: Mussten die Beamten so rabiat werden?

Es ist also Zeit, sich einmal die Ausbildung von Polizisten anzusehen, um das Problem von Fremdwahrnehmung und Eigenwahrnehmung nachzuvollziehen. Um zu verstehen, welch immensen Aufwand Polizisten betreiben, damit später im Einsatz trotz höchstem Stress alles glatt läuft. Und um zu fragen, warum es dann trotzdem manchmal schief geht.

John-F.-Kennedy-Platz 1, Bereitschaftspolizei Dachau: ein riesiges Gelände mit Fußballplatz, Beachvolleyballplatz, auf einem Streifen Wiese grasen Schafe. Wären da nicht die Übungshallen und Klassenräume, man könnte meinen, man habe sich in ein überdimensioniertes Landschulheim verirrt. Zum Ausspannen ist aber niemand hier, Frühstück gibt es gegen 6.30 Uhr. Um 7 Uhr beginnt der Unterricht. Sie lassen hier eher ungern einen Journalisten rein, um ihm die Ausbildung zu zeigen, es ist ja auch unpraktisch: Wenn die Einsatztaktik für das polizeiliche Verhalten bei einer Massenschlägerei am nächsten Tag in der Zeitung steht, könnten die Polizisten gleich einpacken. Natürlich sind Beamte aber auch grundsätzlich skeptisch, wenn sie einen Journalisten sehen. Das sind die, die bei der Arbeit an Einsatzorten nerven. Und es sind die, die als erstes kritisieren, wenn auch nur der Verdacht aufkommt, ein Polizist habe falsch gehandelt.

Unterricht in Theorie und Praxis

Die Bereitschaftspolizei hat an diesem sonnigen Tag trotzdem ihre Pforte geöffnet. "Wir wollen zeigen, was wir tun. Und wir wollen zeigen, warum wir was wie tun", sagte der Pressesprecher vorher. Deshalb haben sie für den Besuch sogar eine Unterrichtsphase gewählt, in der es um besonders heikle Themen geht. Am Vormittag steht Theorie auf dem Programm: Wann dürfen Polizisten Zwang, also Gewalt anwenden? Wie kommuniziert man bei Konflikten? Am Nachmittag trainieren die Schüler dann in der Praxis, wie sie möglichst konfliktfrei mit renitenten jugendlichen Ruhestörern fertig werden, bevor ein Selbstverteidigungskurs dran ist.

"Unsere Ausbildung beruht auf drei Säulen: Recht, Praxis, Persönlichkeitsbildung", sagt Ausbilder Meindl. Das geht schon bei der Einstellung los. In einem Test müssen sich Bewerber nicht nur sportlich, sondern zum Beispiel auch psychologisch beweisen. Von 6000 Bewerbern werden nur die 1000 besten genommen. Nach zweieinhalb Jahren sollen die Schüler, die meist mit Anfang 20 zur Polizei kommen, dann fit sein für den Streifendienst. In allen fünf Ausbildungsabschnitten zu je sechs Monaten gibt es daher vier Leitthemen. Der Dienstbetrieb auf der Wache, der Themenkomplex Verkehr, die sogenannte Kriminalitätsbekämpfung, also wie fahndet man, wie sichert man einen Tatort? Und natürlich der Streifendienst: Wie schlichtet man Streitigkeiten, wie verhält man sich bei Angriffen auf Personen?

Zu all diesen Leitthemen werden die rechtlichen Grundlagen geklärt, es gibt theoretische Prüfungen, praktische Tests und auch Fächer wie "Konflikt und Kommunikation" oder Zeitgeschehen, die zur Ausbildung in Berufsethik beitragen. Die Ausbilder bewerten unter anderem nach einem Katalog von Persönlichkeitsmerkmalen, neben Verantwortungsbewusstsein und Kommunikationsfähigkeit schauen sie etwa auch auf Stressstabilität und Einfühlungsvermögen. Die Schüler erhalten Noten, wer mangelhafte Leistungen zeigt, fällt durch.

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Von 8.35 Uhr an geht es an diesem Tag in "Konflikt und Kommunikation" zum Beispiel um Aggressionstheorien von Sigmund Freud und Konrad Lorenz. 26 Schüler, in braun-grüne Dienstuniform gekleidet, sitzen im Stuhlkreis und diskutieren, warum Menschen in bestimmten Situationen aggressiv werden. In der Stunde "Allgemeines Polizeirecht" zuvor hatte Klassenleiter Armin Nebel erläutert, wann und wie man im Einsatz "unmittelbaren Zwang", also körperliche Gewalt anwenden darf.

Die Auszubildenden saßen da noch nicht im Stuhlkreis, sie saßen hintereinander an ihren Tischen. Nebel aber musste nicht dozieren, es reichte zu fragen. Die Antworten wussten die Schüler bereits: Zwang ist zulässig, wenn andere Mittel keinen Erfolg mehr versprechen und auch nur, wenn er so kurz und so mild wie möglich ausgeübt wird. Dann nennt Nebel ein Beispiel: Der frühere stellvertretende Polizeipräsident von Frankfurt hatte 2002 bei der Entführung des Bankierssohns Jakob von Metzler dem Täter Schmerzen angedroht, damit der ihn zu dem Jungen führt. "So etwas ist natürlich nicht erlaubt", sagt der Ausbilder.

Neue Fälle? Das wird im Unterricht behandelt

Passt die Polizei also ihre Ausbildung nach Fällen an, die in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert und kritisiert werden? Diese Frage beantwortet später der Leiter für Aus- und Fortbildung der bayerischen Bereitschaftspolizei, Gerd Enkling, der in Bamberg arbeitet: Alle zwei Jahre stehe der Lehrplan auf dem Prüfstand. Einzelfälle schmeißen nicht gleich den Unterricht um, wenn aber ein Muster zu erkennen sei, ändere sich etwas:

Nach Tennessee Eisenberg und anderen Fällen mit psychisch Kranken seien die Ausbilder zu der Erkenntnis gelangt, dass Einsätze mit psychisch labilen Personen spezifischer als zuvor trainiert werden müssen. Nicht nur in der Ausbildung, sondern auch in der Fortbildung. Das heißt aber nicht, dass es nun Musterlösungen gibt. "Wir haben es draußen immer mit Einzelfällen zu tun. Was in einer Situation richtig ist, kann in der nächsten falsch sein", sagt Enkling.

Dies ist eines der Grundprobleme der Polizeiausbildung. Gäbe es einen Leitfaden für jede Situation, wäre es leicht, einen Einsatz als geglückt oder missraten einzustufen. Weil ein Angreifer mit einem Messer aber immer unterschiedlich reagiert, können Polizisten nur Handlungsoptionen lernen. Und deshalb sind auch die Regeln für die Anwendung von Zwang so dehnbar formuliert. Wer entscheidet denn, wann kein anderes Mittel mehr geeignet ist? Um ihre Auszubildenden besser auf alle möglichen Handlungsvarianten einzustellen, sodass sie im Ernstfall die richtige wählen, hat die Polizei ihren Lehrplan im Jahr 2003 reformiert und viel stärker auf praktisches Training ausgerichtet. Es gibt Praktika in Inspektionen, und wo früher Frontalunterricht das Mittel der Wahl war, trifft sich die Klasse nun auf dem Parkplatz.

Erst diskutieren, dann eingreifen

Zwei Schüler haben Trainingsklamotten übergestreift und spielen pöbelnde Halbstarke. Zwei andere müssen sie zur Ruhe ermahnen. Die Randalierer führen sich auf, sie kicken Plastikflaschen durch die Gegend und beschimpfen die fiktiven Anwohner, die die Polizei alarmiert haben. Die Polizisten versuchen es erst geduldig mit Argumenten, dann mit Drohungen und schließlich mit einem Platzverweis. Polizisten lernen, ihr Handeln an drei Farben zu orientieren.

Wenn möglich, erst einmal immer die Kommunikation suchen, das ist der grüne Bereich. Wenn das gar nicht hilft, dann wird es gelb, in diesem Fall: Platzverweis. Rot bedeutet körperlichen Zwang und Selbstverteidigung. Als einer der Jugendlichen anfängt zu schubsen, liegt er bald mit Handschellen gefesselt am Boden.

Die Ausbilder sind weitgehend zufrieden mit dem Rollenspiel: Lange haben die Polizeischüler versucht zu kommunizieren, im richtigen Moment haben sie zugegriffen. Nicht so gut dagegen war die Drohung. "Wir wenden auch gerne Zwang an", hatte einer der Schüler den Randalieren zugerufen. "'Gerne' wenden wir nicht Zwang an", sagt der Ausbilder. "Ihr dürft in der Hektik nicht so einen Schmarrn reden. Genau solche Sätze wollen wir im Kontakt mit Bürgern nicht hören."

Das lapidar hingeworfene "gerne" sollte nur eine möglichst nachdrückliche Warnung sein, um vielleicht doch noch mit Worten für Ruhe zu sorgen. Aber für Polizisten kommt es auf jedes Wort an, sonst heißt es hinterher: Die meinen, sie können sich alles erlauben. Um auch unter Stress korrekt zu reagieren, versuchen die Ausbilder deshalb, durch das Training bei ihren Schülern Automatismen zu entwickeln.

Eigenes System zur Selbstverteidigung

Im Kurs Selbstverteidigung in einer mit blauen Matten ausgelegten Halle müssen zwei Schüler einen Angreifer überwältigen. "Wenn dich einer attackiert, vielleicht noch mit einer Waffe, dann geht der Puls hoch. Dann ist das Risiko groß, dass Menschen irrational handeln", sagt Kursleiter Oliver Hense. Polizisten sollen deshalb so konditioniert sein, dass sie auch in extremen Stresssituationen automatisch sich selbst schützen, den Angreifer überwältigen, aber ihm möglichst wenig schaden. Früher lernten Polizisten den Kampfsport Jiu Jitsu, aber die Techniken stellten sich als zu kompliziert heraus, um sie in kritischen Situationen abrufen zu können. Jetzt gibt es ein überschaubares System an einfachen Handgriffen, nur für Polizisten. Bestimmte Techniken wurden extra in Zusammenarbeit mit Ärzten entwickelt, um Verletzungen zu minimieren.

Der Aufwand ist also groß, den Polizisten betreiben, um auch in kritischen Situationen korrekt einzugreifen. "Aber ein Zugriff sieht natürlich trotzdem immer unschön aus", sagt Hense. Er musste einmal mit Kollegen auf dem Oktoberfest einen zwei Meter großen Schrank von Mann auf die Wache bringen. Der Typ wehrte sich mit Händen und Füßen, sie mussten heftig kämpfen, bis sie ihn endlich unter Kontrolle hatten. Passanten wunderten sich da bestimmt auch: Müssen die Beamten so rabiat sein? "Aber anders ging es einfach nicht", sagt Hense. Dass der Kerl vorher einen anderen Besucher mit einem Faustschlag umgehauen hatte und sich mit Argumenten partout nicht zum Mitkommen bewegen lassen wollte, davon bekommen diese Passanten meist nichts mit.

"Zwang gehört halt manchmal zu unsrem Job"

Da ist er also wieder, der Unterschied zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung. Und die Polizisten werben nun um Verständnis. "Niemand will in eine Situation kommen, in der er Gewalt anwenden muss", sagt Hense. Bevor man aber auf Polizisten schimpft, soll bitte auch der Bürger seine Wahrnehmung überprüfen, die gesamte Situation betrachten und dann erst ein Urteil fällen. Hense sagt: "Zwang gehört halt manchmal zu unserem Job." Den Schülern das klar zu machen, ist gar nicht so einfach. "Die haben oft Hemmungen bei solchen Übungen", sagt der Ausbilder. Viele Auszubildende, so erzählen es die Schüler selbst, haben schon als Sanitäter oder Rettungsfahrer gearbeitet, bevor sie zur Polizei gingen. Der Aspekt der Hilfe in ihrem Beruf liegt ihnen wesentlich näher als der Aspekt des Zugriffs.

Bleibt trotzdem die Frage, warum es dann zu Situationen kommt, in denen Polizisten den Einsatz von Gewalt überzieht? Die Antwort von Ausbildungsleiter Enkling ist simpel. 99,9 Prozent der Einsätze gingen ohnehin gut, das ist ihm wichtig zu betonen. Bei mehr als 40.000 Beamten in Bayern und zigtausend Einsätzen könne man aber ausbilden und fortbilden, wie man will. Da sei es wie in jedem anderen Betrieb: "Da kann man leider nicht ausschließen, dass Mitarbeiter Fehler machen."

Die Polizei hat sich an diesem Tag bei der Arbeit über die Schulter schauen lassen, weil die Verantwortlichen gemerkt haben, dass sie sich öffnen müssen. Nur so können sie einige Dinge erklären, um zu verhindern, dass das Verhältnis von Polizei und Bürgern weiter auseinanderdriftet. Einen wichtigen Satz, um dieser Entwicklung entgegen zu steuern, haben die Ausbilder bei allem Werben um Verständnis für ihre Arbeit übrigens auch noch betont: Wenn ein Polizist einen Fehler macht, sagen sie, dann dürfe es keinen Zweifel geben, dass er dafür gerade stehen muss.

© SZ vom 06.07.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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