Pendler im Streik:Schimpfen, schwitzen, schwänzen

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Choleriker oder Blaumacher, Stoiker oder Neuplaner? Jeder Pendler hat beim Streik eine eigene Strategie. (Foto: N/A)

Die einen organisieren Fahrgemeinschaften oder tüfteln stundenlang am Ersatzfahrplan, die anderen vertrauen auf ihr Glück am Bahnsteig oder fahren erst gar nicht los - eine Typologie des Pendlers in Streikzeiten.

Von SZ-Autoren

Es ist zum Verzweifeln. Zum Aus-der-Haut-Fahren. Oder gar nicht so dramatisch? Als Pendler kann man auf den Streik der Lokführer ganz unterschiedlich reagieren - eine Typologie:

Der Stoiker

Der Stoiker weiß: Das Schlimmste am Streik ist nicht, dass keine Züge fahren. Das Schlimmste sind die Kollegen, die den ganzen Tag darüber schimpfen, dass keine Züge fahren. Die ganze Mittagspause lang, und das obwohl die Bahn, mit der sie dann eh nicht fahren können, erst am Ende des Arbeitstages hätte fahren sollen. Als würde es etwas an der fehlenden Bahn am Abend ändern, wenn man Mittags noch mal richtig schlechte Laune verbreitet. Der Stoiker findet, dass dieses Echauffieren sinnlos Lebensenergie verschwendet. Er hält sich darum von allen Streik-Gesprächen fern und grantelt lieber über das Schimpfen der Kollegen - obwohl er natürlich weiß, dass auch das verschwendete Lebensenergie ist.

Der Teamplayer

11.09 Uhr, Rundmail vom bislang unbekannten Herrn S., der gerade "als Trainee im CvD-Büro Station macht". Seine Idee: Fahrgemeinschaften organisieren. Als Antwort auf den Lokführerstreik. Seine Mail geht an alle. Um 11.11 Uhr schreibt man zurück, lobt ihn für seine phantastische Idee und bietet, weil man privat zur Anschaffung eines etwas größeren, wenn auch schon 13 Jahre alten Automobils gezwungen wurde, für den Abend gleich fünf Sitzplätze in Richtung Norden an. Hausmeister, Kantinenpersonal, Leiterebene, Pauschalisten - in der Krise müssen wir alle zusammenhalten!

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Um 13.32 Uhr folgt die Liste des Trainees. Seine Ausbeute - etwas mager. Ein Kollege bietet drei Plätze mit "wenig Beinfreiheit" an, eine Kollegin behauptet, eine halbe Stunde in der Tiefgarage auf Mitfahrer warten zu wollen, man weiß nur nicht, in welchem Untergeschoss. Der siebte (und letzte) Anbieter möchte erst um 23 Uhr das Haus verlassen.

Da steht man mit fünf Sitzplätzen am frühen Abend doch prima da. Eine Viertelstunde wartet man schließlich im Foyer. Auf Mitfahrer, von denen es doch eigentlich Hunderte geben müsste. Niemand kommt. Allein, im Stau neben fünf leeren Sitzen grübelt der Fahrer, woran es gelegen haben könnte: Ist die Automarke zu schlecht? Die Uhrzeit? Der Treffpunkt? Ist der Fahrer am Ende im Haus verschrien und unbeliebt? Streiks sind echt ein großer Mist.

Der Umsteiger

Das Wort Streik ist abgeleitet vom englischen "to strike", was so viel bedeutet wie "schlagen" und "stoßen" - also kurz: Kampf. Auch der Umsteiger kämpft an diesem Morgen, erst mit der Fußfessel, die die Anzughose von der Kettenschmiere fernhalten soll, dann mit seiner Kondition. Sein Rad hat er am Abend noch schnell aus der hinterletzten Ecke des Kellers hervorgekramt, auch dies ist alles andere als Ausdruck sportlicher Ambition. Mit Expandern wird die Tasche auf den Gepäckträger geschnallt, der Kopf in den viel zu kleinen Helm seines jüngsten Sohnes gesteckt. Und während er sich zwischen Autoabgasen durch den Großstadtverkehr müht, denkt er an die Studie, die seine Frau am Vortag zitiert hat: Schon 30 Minuten Radeln hellt die Stimmung auf - ihn macht es depressiv. War er doch früher ein echtes Geschoss auf den Straßen, heute ist er ein Verkehrshindernis. Der Ehrgeiz packt ihn, als der Kollege, der kurz vor der Pension steht, an ihm vorbeizieht. Doch in schweißtreibendes Tempo darf er nicht kommen. Er hat kein zweites Hemd dabei. Anfängerfehler. Vielleicht dann am Freitag.

Der Neuplaner

Wie, was? Mein Langzug, planmäßige Abfahrt 8.21 Uhr von Gleis 2, fällt aus? Für den Planungs-Junkie, der Verlässlichkeit braucht wie andere die Luft zum Atmen, ist ein solches Szenario noch entsetzlicher als kurzfristige Programmänderungen im Fernsehen. Diese Ungewissheit, diese Abhängigkeit von Zufällen - was bei Wüstenquerungen sehr oft in die Katastrophe führt, kann auch im MVV-Netz nicht gesund sein. Also ran an die elektronischen Fahrtenplaner, die von minutengenauen Zu-Fuß-Geh-Zeiten bis hin zur Funktionsfähigkeit einzelner Rolltreppen alles ausspucken, auf was man nicht unvorbereitet treffen will. Wer schon von lieb gewonnenen Pfaden abweichen muss, sollte zumindest nicht als Hasardeur im Büro oder sonstwo ankommen müssen, am Ende auch noch zu spät. Alternativ wäre es denkbar, sich vom Kollegen schriftlich die kostenfreie Reservierung eines Sitzplatzes in dessen TÜV-geprüftem Auto bestätigen zu lassen - welche Lösung die bessere ist, muss zuvor in einer belastbaren Gegenüberstellung aller Vor- und Nachteile ermittelt werden.

Dass ein Zug ausgefallen ist oder aber enorme Verspätung hat, das gehört zum Standardrepertoire an Ausreden, wenn der Blaumacher mal wieder gar nicht oder zu spät zur Arbeit kommt. Im Fall des Lokführerstreiks muss er sich Neues einfallen lassen, denn da hätte er ja vorgewarnt sein müssen. Zum Glück gibt es aber noch Autopannen, verstopfte Straßen, Platten am Fahrrad, Taxifahrer, die den Weg nicht finden. Der versierte Blaumacher hat ja viel Zeit, über all die Hindernisse auf dem Weg zum geliebten Arbeitsplatz nachzudenken. Und im Fall des Streiks kann er sein schlechtes Gewissen mit der Versicherung beruhigen, er wolle ja nur Solidarität mit den armen Lokführern beweisen. Sollte der Chef dennoch toben, hat er immer noch das Modell "Home Office" anzubieten, das er bei dieser Gelegenheit gerne im Ernstfall zu testen bereit ist.

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Der Glückspilz

Der Glückspilz ist frühkindlich geprägt, bereits als Jugendlicher las er lieber Comics über Gustav Gans als über Donald Duck. Nicht, weil er den gutmütigen Trottel Donald nicht gemocht hätte. In Gustav Gans hat er einfach einen Seelenverwandten entdeckt. So einen Streik betrachtet der Glückspilz deshalb mit Humor, all die Planer und Stoiker, Choleriker und Teamplayer kann er nicht ernst nehmen. Sie sind für ihn wie Donald, sie werden sich plagen und mühen, vorbereiten - und dann unnütz rumstehen oder sich ärgern, weil ihr ganz persönlicher Streikplan doch nicht aufgegangen ist. Der Glückspilz dagegen hat die Nachrichtenlage nur kurz gescannt, und die für ihn bedeutende Nachricht schnell herausgefiltert: Nicht alle Lokführer befinden sich im Ausstand, ein paar S-Bahnen fahren doch noch. Er spaziert deshalb einfach zur Haltestelle, an Staus und Radfahrern vorbei, und vertraut auf den Notfallplan der Bahn. Die Anzeige am Bahnsteig bestätigt ihn: Die S-Bahn kommt in zwei Minuten.

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Der Choleriker

Natürlich weiß er, dass die S-Bahn nicht fährt - seit der ersten Meldung verfolgt er genauestens die Nachrichtenlage, hauptsächlich, um seiner Wut darüber aktuellsten Ausdruck verleihen zu können. Selbstverständlich hält ihn all die Information nicht davon ab, pünktlich wie jeden Tag am Bahnsteig zu stehen, 8.29 Uhr, Pasing Bahnhof. Wie angekündigt, vermeldet und erwartet kommt die S-Bahn nicht, was den Choleriker mit tiefer Befriedigung erfüllt, andererseits den nächsten Zornesausbruch nicht verhindert, ja ihn im Gegenteil gerade erst befeuert. Von Abschnitt A bis Abschnitt C hört der ganze Bahnsteig seine Suada, gegen die Verbrecherbande GDL, den Sauhaufen S-Bahn, den unfähigen Oberbürgermeister, Seehofer und Merkel, diese Nullen, und Obama erst - nichts als eine Enttäuschung. Ein sanfter Hinweis, dass zumindest die letzteren mit dem S-Bahn-Streik doch nun wirklich nichts zu tun haben, findet kein Gehör. Der Choleriker schimpft nämlich nicht, weil ihn was ärgert, er schimpft, weil ihn das Schimpfen freut. Nächste Woche kauft er vielleicht ein Flugticket, nur so, dann kann er sich über die Piloten auch noch aufregen.

© SZ vom 06.11.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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