Null acht neun:Schande über Münchens Füße

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München hatte mal große Flaneure. Nun ist das Gehen in dieser Stadt in einer ernsten Krise. Sind bald nur noch die Touristen echte Fußgänger?

Von Johan Schloemann

Wann sind Sie, liebe Leser, das letzte Mal in die Stadt gegangen? Ich meine jetzt nicht: mit U-Bahn, Auto, Fahrrad zur Arbeit oder zum Weihnachtsshopping gefahren. Sondern wirklich gegangen?

Ich habe mich jedenfalls ziemlich ertappt gefühlt, als mir der Essay "Lob des Gehens" in die Hand fiel, geschrieben von David Le Breton, einem Soziologen aus Straßburg. Das Buch ist eine Ode ans Flanieren, an den Fußgänger, mit Feststellungen wie dieser: "Die Stadt befindet sich nicht außerhalb des Menschen, sie ist in ihm, sie erfüllt seinen Blick, sein Gehör und seine anderen Sinne, er macht sie sich zu eigen und wirkt auf sie ein." Oder: "Ein Weg ist nie zweimal gleich lang und zeigt nie zweimal das gleiche Stadtbild, er verändert sich mit der Gefühlslage, in der er beschritten wird."

Ja, genau das hatte ich mir eine Zeit lang auch mal vorgenommen, bin sogar einige Male zu Fuß zur Arbeit gelaufen. Aber dann vergisst sie der Alltagsmensch gerne wieder, die am nächsten liegende, schönste, beste aller Fortbewegungsarten. Schande auf meine Füße.

Klar, München hatte mal große Flaneure, von Karl Valentin bis Sigi Sommer. Und weil die innere Stadt so überschaubar ist, sind die Wege ja fast nie zu lang. Trotzdem kann man den Eindruck kriegen, dass das Gehen in dieser Stadt in einer ernsten Krise ist. Der Münchner geht eher an der Isar spazieren oder im Englischen Garten. Oder er "fährt raus". Aber da, wo die Stadt so richtig städtisch ist, also geschäftig, da scheint es das heute viel weniger zu geben, dieses schwingende, freie, staunende Großstadtgehen.

Zugegeben, die Bürgersteige sind in München schmäler als in anderen Städten. Doch genug Platz dafür wäre immer noch da. Stattdessen sehen die Leute meist nur noch nach Erledigen aus, oder noch schlimmer: nach Bummeln, aber nicht nach Gehen. Sind bald nur noch die Touristen echte Fußgänger im Sinne des Straßburger Flaniersoziologen? Also jene desorientierten Gästegruppen, die immer wie verschreckte junge Rehe aufblicken, wenn ihnen das alltägliche Straßenleben in die Quere kommt?

"Die Stadt existiert nur durch die Schritte ihrer Bewohner", schreibt David Le Breton, wie als Ermahnung nach München: "Die Passanten sind Anzeichen ihrer Lebendigkeit oder Trägheit, der Freude oder Langeweile, die sie hervorruft.

© SZ vom 19.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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