Null Acht Neun:Der Lärm ist Schnee von gestern

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Der Klimawandel fordert ein weiteres Opfer: Die große Zeit des Schneeschauflers ist vorbei - für die Nachbarn ein Grund zur Freude

Kolumne von Wolfgang Görl

Neulich spazierte ein Mann durch Neuhausen, der hatte eine Schneeschaufel geschultert und wechselte mit zunehmender Verzweiflung im Blick unentwegt die Straßenseite. Es sah aus, als würde er etwas suchen, und was konnte das anderes sein als Schnee. Das war der Moment, in dem es einem wie Flocken von den Augen fiel: Ja richtig, Schnee! So etwas gab es einmal. Früher, im alten München, meistens im Winter und oft so viel, dass die örtliche Dackelpopulation ein Schneehöhlensystem anlegen musste, um Gassi gehen zu können. Das war auch die große Zeit der Schneeschaufler, einer Spezies, die dem Laubbläsermenschen und dem Rasenmähermenschen verwandt ist. Doch wie die Goldkröte oder der isländische Okjökull-Gletscher ist nun auch der Münchner Schneeschaufler ein Opfer des Klimawandels.

Auf den ersten Blick ist der Schneeschaufler ein nützliches Wesen. In seinem Arsenal hat er fünf bis zehn Schneeschaufeln, teils aus Plastik, teils aus Aluminium und teils aus fair gehandeltem Sperrholz, das der Schneeschaufler aber nur in seiner Königsdisziplin, dem Pulverschneeschaufeln, einsetzt. Mit diesem Fachgerät schippt er den Gehsteig vor seinem Haus frei, indem er den Schnee auf den Radweg schiebt oder auf parkende Autos wirft. Kleinwagen kamen in früheren Zeiten erst wieder bei der Schneeschmelze im Mai zum Vorschein. Hat der Nachbar das Trottoir nicht ebenfalls bis zum Morgengrauen geräumt, klebt der Schneeschaufler ein scharf formuliertes Mahnschreiben an dessen Zaun, mit der Anrede: "An die faule Bande".

Das alles aber sind nur Nebentätigkeiten, denn seine Hauptaufgabe sieht der Schneeschaufler darin, die Nachbarschaft aus dem Schlaf zu reißen. Grundsätzlich startet er seine Aktivitäten um fünf, spätestens aber um sechs Uhr morgens, wobei er stets die Profischaufel mit der verzinkten Stahlkante zur Hand nimmt. Diese durchschneidet die Schneedecke wie Butter, sodass der Schneeschaufler mühelos zum darunter liegenden Pflaster vorstößt, auf dem die Stahlkante ein Getöse erzeugt, das Tote aufweckt und erst recht die Lebenden. An Schlaf ist dann nicht mehr zu denken, nicht beim Stahlkantengekratze, das von Geheimdiensten und anderen zwielichtigen Organisationen als Folter eingesetzt wird, um Geständnisse zu erpressen. Und doch gibt es eine Steigerung: Die begabtesten Schneeschaufler, die oft dem Hausmeistermilieu entstammen, arrangieren das Schaufelscharren nur als Auftakt zu einem Crescendo, das seine Mauern sprengende Wucht dem Benzinmotor ihrer Schneefräse verdankt. Die Schallwellen einer in München laufenden Fräse sind in der Lage, einen Lawinenabgang auf der Zugspitze auszulösen.

All diese erfreulichen Effekte sind mittlerweile gefährdet, weil Schnee in München so selten ist wie Intelligenz im Internet. Schon jetzt stecken viele Schneeschaufler in einer Sinnkrise, die sie mit morgendlichem Laubbläsergetöse zu bewältigen suchen. Schneekanonen könnten helfen, aber die werden komplett für die Alpenbeschneiung gebraucht. Immerhin, einen Vorteil hat der Schneemangel: Die faule Bande kann jetzt ausschlafen.

© SZ vom 25.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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