Hugo Höllenreiner sagt, er höre noch heute die Stiefel. Klack. Klack. Klack. Er klopft auf den Tisch, wo gerade noch das Mittagessen gestanden ist. Die Stiefel haben dem Kind Angst gemacht, obwohl sie einem Arzt gehört haben, der so charmant sein konnte und Süßigkeiten verteilte. Hugo hat ihn oft gesehen, denn Josef Mengele wollte Kinder haben für seine Menschenversuche. Auch Hugo hat er holen lassen, neun Jahre alt war der da, geboren 1933, aufgewachsen in Giesing, beinahe gestorben in Auschwitz. Hugo Höllenreiner ist Sinto, deshalb.
Sie gaben ihm die Nummer Z-3529, sie ist noch heute auf seinem Arm zu lesen, Z steht für Zigeuner. Einmal hat ihn Mengele kommen lassen, da musste sich Hugo auf einen Tisch legen, er wurde festgeschnallt, musste die Beine breit machen, und dann beugte sich der Arzt über ihn. Er ließ sich einen Metallstab reichen. Der alte Mann stockt im Erzählen. "Ich seh' genau noch, was alles passiert ist. Mengeles Augen habe ich heute noch im Kopf." Hugo glaubte zu sterben, aber irgendwann wurde Nummer neunundzwanzig hinausgetragen. Sie stopften ihm viel Papier zwischen die Beine, es wurde rot. Dann kam Nummer achtundzwanzig dran, das war sein Bruder. Die Bilder verfolgen ihn bis heute, das Erinnern bereiten ihm Schmerzen, und trotzdem berichtet er. Hugo Höllenreiner ist Zeitzeuge, einer der letzten, deshalb.
Er holt sich zurück, was ihm andere genommen haben, jeder Satz, mit dem er in die Vergangenheit taucht, ist ein Sieg über das Böse. Das Schlimmste sei gewesen, sagt er, dass sie ihm und der Mama und dem Papa und den Geschwistern die Würde geraubt haben in den Lagern. Und später, als Hugo auch Ravensbrück, Mauthausen und Bergen-Belsen überlebt hatte und Deutschland, die Heimat der Höllenreiners, zur Demokratie heranwuchs, später hat ihm dieses Land die Würde auch nicht zurückgegeben. Keine Anerkennung der Verletzungen, kein Unrechtsbewusstsein, kein Interesse am Erlebten. Er blieb in der Bundesrepublik, was er für die Nazis war, ein Zigeuner.
Jetzt erst, gut 70 Jahre nach jenem Morgen im März 1943, an dem sie ihn und seine Familie zu Hause abgeholt haben, erst jetzt bekommt Hugo Höllenreiner eine Anerkennung für sein Wirken als Zeitzeuge, aus Österreich kommt sie, es ist der Austrian Holocaust Memorial Award des Österreichischen Auslandsdienstes. Der Verein engagiert sich international für Frieden und Versöhnung, gegründet hat ihn Andreas Maislinger. Er sagt, er wolle bewusst jemand ehren, der bislang nicht so im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit stand, und als er Hugo Höllenreiner kennenlernte, sei er begeistert gewesen von seinem Charisma. An diesem Donnerstag wird Höllenreiner im Jüdischen Museum in München geehrt, Christian Ude hält die Laudatio.
Ude war es auch, der Höllenreiner zum Erzählen animierte. Vor 20 Jahren war das, bei einer Ausstellung, und seither besucht der Sinto Schule um Schule. So sehr es weh tut, es ist auch eine Erleichterung, sagt er. Jahrzehntelang hatte er geschwiegen. Wohl auch, weil er Sorge hatte, den Erwartungen nicht zu genügen. Weil er doch nur so kurz auf der Schule war. Aus der dritten Klasse hatten ihn Hitlers Leute rausgeholt, und nach dem Krieg kamen nur noch gut zwei Jahre dazu. Das meiste hat er sich selbst beigebracht, das Lesen und das Schreiben. Erzählen aber konnte er schon immer, die Schüler hören ihm zu, still und starr. "Er ist ein Naturtalent als Erzähler", sagt Peter Poth, "er hat dem Leiden der Sinti und Roma ein Gesicht gegeben."