Nächtlicher Einsatz:Sprechstunde am Busbahnhof

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Ehrenamtliche Helfer der "Ärzte der Welt" haben neben den Haltestellen eine medizinische Grundversorgung für Flüchtlinge aufgebaut. 40 Prozent der betreuten Kranken sind Kinder und alleinreisende Minderjährige

Von Inga Rahmsdorf

Mittlerweile gibt es sogar ein mobiles Ultraschallgerät. Anfangs hatten die Ärzte kein Untersuchungszimmer, keine Liege und keinen Strom. Vor drei Monaten haben Stephanie Hinum und ihre Kollegen schwangere Frauen noch auf der öffentlichen Toilette des Zentralen Omnibus Bahnhofs München (ZOB) untersucht. Ihre medizinische Ausrüstung passte in einen Rucksack, mit dem die Ärzte am ZOB unterwegs waren. Dort haben sie Menschen angetroffen, die erschöpft auf den Bänken lagen, die Schmerzen oder Hautausschlag hatten, Kinder mit offenen Wunden und Schwangere, die unterkühlt waren. Jetzt arbeiten sie in einem weißen Container.

Seit Mitte September kommt Hinum regelmäßig an den ZOB. Nach Feierabend, nach der Arbeit in ihrer Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie zieht die Ärztin sich einen weißen Kittel mit dem Logo "Ärzte der Welt" an, und empfängt ehrenamtlich Patienten, manchmal bis Mitternacht, manchmal bis drei Uhr morgens. Ihre Patienten kommen ohne Termin. Wer auf der Flucht ist, kann nicht planen. Es sind Menschen, die irgendwie durchs System fallen, weil sie keinen Anspruch auf medizinische Versorgung haben, vor allem Flüchtlinge, die hier aus-, ein- oder umsteigen. Weil sie sich nicht registriert haben, oder weil sie nicht dort bleiben wollen, wo das deutsche Asylsystem sie hinschickt. Die Situation am ZOB fällt in einen Graubereich. Flüchtlinge landen hier, weil sie weiter fahren möchten, nach Hamburg oder Schweden. Weil dort Verwandte oder Freunde leben. Oder weil sie nicht informiert sind über das Asylsystem. Oder weil sie Angst haben. "Wir treffen viele junge Afghanen hier, die panische Angst davor haben, dass sie in Bayern sofort abgeschoben werden, wenn sie sich irgendwo melden", sagt Cevat Kara vom Verein "Ärzte der Welt", der das Projekt am ZOB leitet.

Wie an so vielen Orten verlassen sich die Behörden auch am Münchner Busbahnhof auf die Helfer, die Nacht für Nacht freiwillig im Einsatz sind. (Foto: Stephan Rumpf)

Ein junger Syrer betritt etwas zögerlich den Container. Er hat starke Schmerzen und kann seinen Arm nicht bewegen. Er sei vor einem Jahr aus dem dritten Stock gefallen, übersetzt Seifollah Rezai-Jafari, einer der vielen freiwilligen Dolmetscher, die für die Ärzte unerlässlich sind. "Es ist vor allem eine Symptombehandlung, die wir machen", sagt Hinum. Eigentlich bräuchte der Syrer eine Operation, die Ärztin kann ihm nur Schmerztabletten geben. Aber immerhin. Wenn das Team der Ärzte nicht so engagiert im Einsatz wäre, dann würden diese Menschen keinerlei medizinische Hilfe erhalten. Wie an so vielen Orten in Deutschland verlassen sich staatliche und städtische Stellen auch hier auf die freiwilligen Helfer, die bei ihrem humanitären Einsatz auch vom SZ-Adventskalender unterstützt werden.

Oben rauschen die Autos über die Hackerbrücke, darunter stehen vier weiße Container und ein Anhänger, in denen seit mehr als drei Monaten freiwillige Helfer Nacht für Nacht im Einsatz sind, um den hier gestrandeten Menschen zu helfen. Es sind Freiwillige der Initiative ZOB-Angels, die jeden Abend Essen und Tee ausgeben und warme Kleidung verteilen. Und es sind die ehrenamtlichen Mediziner, die viermal in der Woche den Container mit dem kleinen Warte- und dem Untersuchungsraum aufschließen und eine ungewöhnliche Sprechstunde anbieten, ganz ohne Abrechnung. Es gebe eine gute Zusammenarbeit mit der Stadt, dem Sozialreferat, dem Jugendamt, mit der Polizei und allen anderen beteiligten Behörden, das betonen alle Helfer immer wieder. Gleichzeitig will von den Behörden aber niemand so richtig verantwortlich zeichnen für die Situation am ZOB. Es gebe schließlich einen Besitzer des Grundstücks, der verantwortlich sei. Oder der Betreiber. Oder die Flüchtlinge selbst, die sich ja registrieren lassen könnten. Die Stadt bietet zudem ein Kälteschutzprogramm auf dem Gelände der Bayernkaserne an, das sie nutzen könnten. Doch viele der Flüchtlinge wollen den ZOB nicht verlassen, weil ihr Bus früh morgens fährt. Zudem müssten sie sich auch für das Programm erst registrieren.

Die Ärztin Stephanie Hinum kommt regelmäßig nach Feierabend an den ZOB, um Flüchtlinge zu versorgen. Dolmetscher helfen ihr dabei. (Foto: Stephan Rumpf)

Selbst diejenigen von offizieller Seite, die anerkennen, dass die Menschen am ZOB Hilfe brauchen, wollen sich oft nicht zu weit hervorwagen bei dem Thema. Denn alle fürchten den Vorwurf, sie würden damit fördern, dass Flüchtlinge sich nicht registrieren lassen. Aber frierende Menschen, die auf der Straße schlafen, womöglich Kinder, diese Bilder soll es in München auch nicht geben. Und so sehen sich die Behörden vor einem Dilemma. Immerhin hat sich die Stadt trotzdem sehr kooperativ gezeigt. Das Sozialreferat hat einen Anhänger und nun einen vierten Containern aufgestellt, der die ganze Nacht geöffnet ist, und vor allem Kindern und Frauen Schutz bieten soll. Am Ende aber verlassen sich alle auf die freiwilligen Helfer.

Nach Angaben des Vereins haben die Ärzte der Welt in den vergangenen drei Monaten 1120 Menschen am ZOB beraten und davon 630 Flüchtlinge medizinisch betreut. 40 Prozent der Kranken waren Kinder und alleinreisende Minderjährige. Der Verein plant, künftig zusätzlich mit einem Bus noch eine mobile Praxis einzusetzen, um auch rund um den Hauptbahnhof gestrandeten Menschen zu helfen.

Projektleiter Kara dreht immer wieder eine Runde über den Busbahnhof, spricht Menschen an, die warten und bietet ihnen Hilfe an. "Ich habe Leute gesehen, die zwei bis drei Tage hier waren, weil sie kein Geld für die Weiterfahrt hatten", sagt Kara. Im Ärzte-Container unterstützt eine Medizinstudentin Hinum bei der Arbeit. Der Raum ist nur wenige Quadratmeter groß, aber es gibt alles, was man für eine Grundversorgung braucht. Die Ärztin verteilt oft Vitamin C, Schmerztabletten und Hustensaft. "Eine Durchhaltemedizin", sagt Hinum, die sich auch bereits seit vielen Jahren bei Open.Med, einer Anlaufstelle für Menschen ohne Krankenversicherung, engagiert. Bei chronischen oder schwereren Erkrankungen kann sie ihren Patienten am ZOB nur raten, sich bald und spätestens dort, wo sie hinfahren wollen, an einen Arzt oder ein Krankenhaus zu wenden. Die Ärzte haben auch Kontakt mit Kliniken in Skandinavien aufgenommen, um die Patienten direkt mit Informationen über ihren Zielort zu versorgen.

Hinum will nicht, dass staatliche Stellen sich darauf ausruhen, dass Freiwillige die Arbeit übernehmen. Aber sie möchte, dass Menschen den Freiraum behalten, selbst zu wählen, ob und wo sie sich registrieren lassen. "Wir können doch niemandem verweigern, dass er dahin reisen möchte, wo seine Mutter, seine Geschwister oder sein Cousin ist", sagt sie.

© SZ vom 19.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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