Nachtschicht des BRK:Einsatz im Epizentrum

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Betrunkene, Egomanen und Jugendliche in Windeln: Samstagnacht hat der Rettungsdienst in München viel zu tun. sueddeutsche.de war mit dabei.

Renate Silberbauer

Samstagnacht, 3 Uhr. Die junge Frau schlägt wild um sich und schreit: "Lasst mich los, lasst mich los!" Doch die zwei Männer halten sie fest. Sie wollen ihr nichts Böses. Sie wollen helfen. Denn das Szenario spielt sich nicht etwa in einem dunklen Park ab, sondern im Rettungswagen des Bayerischen Roten Kreuzes in München. Für Rettungsassistent Thomas Leinweber und Rettungssanitäter Thomas Rimner ist es der fünfte Einsatz diese Nacht. Die junge Frau wehrt sich noch immer mit Händen und Füßen.

In der Nachtschicht am Samstag ist beim BRK München immer etwas los. (Foto: Foto: ddp (Symbolbild))

Vor wenigen Minuten sah dies noch anders aus. Regungslos und kaum ansprechbar liegt die 22-Jährige in den Armen eines Freundes vor der Muffathalle. Die Diagnose ist eindeutig: sternhagelvoll. Mühelos heben die beiden den leblosen Körper auf die Trage und dann geht es ab in den Rettungswagen.

Sofort packt Thomas Rimner Schorsch aus. Schorsch ist der dritte Mann an Bord, der bei betrunkenen Patienten viel Arbeit erspart - denn er ist ein kleiner blauer Eimer. Benutzt wird Schorsch diese Nacht nicht.

Im Rettungswagen folgt das übliche Programm für betrunkene Patienten: Blutdruck, Herzfrequenz und eine Infusion. Da die junge Frau ja inzwischen hyperventiliert und um sich schlägt, ist es mit der Infusion so eine Sache.

Der erste Versuch schlägt fehl. Die Patientin wehrt sich weiterhin. Dann wird es Thomas Leinweber zu bunt. Mit deutlichen Worten erklärt er seiner Patientin, dass es so nicht gehe und sie sich etwas zusammenreißen solle. Und plötzlich hat sie ihre Gliedmaßen wieder unter Kontrolle. Die Infusion sitzt und Rimner fährt die Patientin ins Krankenhaus nach Bogenhausen.

Schichtbeginn im Epizentrum

Leinweber ist als Rettungsassistent für die Notfallversorgung der Patienten zuständig. Ein Rettungsassistent hat eine umfangreichere Ausbildung als ein Rettungssanitäter. Leinweber hat deswegen im Rettungswagen das Sagen. Rimner unterstützt als Rettungssanitäter seinen Kollegen und hilft ihm bei der Patientenversorgung. Er sitzt am Steuer des Rettungswagens. Sein Arbeitsgerät ist dieses mal der Wagen RK 14/02.

Abends um 22.20 Uhr beginnt der Dienst von Leinweber und Rimner. Was Leinweber und Rimner die Nacht erwarten wird? Sie wissen es nicht. "Wir sind heute im Epizentrum von München unterwegs", sagt Leinweber. "In der Innenstadt." Da die Samstagnächte im "Epizentrum" erfahrungsgemäß die stressigsten sind, machen sich die beiden auf einiges gefasst.

Von betrunkenen Männern und Frauen

"Vor allem Betrunkene werden wir heute treffen. Viele Betrunkene", sagt Leinweber. Er fährt seit 26 Jahren Rettungsdienst und weiß, wovon er spricht. Sein Kollege ist seit 2006 im Einsatz und verfügt ebenfalls über ein beachtliches Repertoire an kuriosen Erlebnissen.

Die Hauptklientel der Samstagnacht teilt Thomas Leinweber in zwei Kategorien ein - betrunkene Männer und betrunkene Frauen. "Männer sind unkompliziert. Sie sind betrunken und pöbeln." Frauen seien viel schlimmer. "Sie kreischen, spucken, kratzen, beißen und sind hysterisch. Schlimm, ganz schlimm." Dass er recht hat, stellt sich einige Stunden später vor der Muffathalle heraus.

Auf der nächsten Seite: Wenn Glassplitter ins Auge gelangen.

Erschreckend sind für die beiden weniger die Verletzungen, die sie tagtäglich sehen, sondern die Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft. Denn selbst ein Rettungswagen, der offensichtlich im Einsatz ist, könne viele Autofahrer nicht vom Hupen abhalten.

"Einmal haben wir in der U-Bahn einen Mann reanimiert. Da kamen doch tatsächlich Fahrgäste auf uns zu und haben gesagt, wir sollen den Mann doch erst raustragen, damit die U-Bahn weiterfahren könne. Das muss man sich mal vorstellen", sagt Leinweber.

Während die beiden erzählen, schauen sie immer wieder zur Uhr. "Ungewöhnlich, normalerweise sind wir kaum im Dienst und schon kommt der erste Einsatz rein", sagt Rimner.

Der große Aufenthaltsraum in der Wache im Lehel macht es den Wartenden so angenehm wie möglich: eine große Couch, Fernseher, Bücher und sogar eine Spielkonsole stehen bereit. Außerdem verfügt der Raum über zwei Tische mit Eckbänken und eine Koch-Nische.

Ein schriller Pfeifton kündigt den Einsatz an

Es sieht aus wie ein großes Wohnzimmer mit offener Küche. Gemütlich. Trotzdem kann die Nacht lang werden, wenn nichts passiert. Zu Beginn der Schicht tummeln sich drei Teams im Aufenthaltsraum.

Es wird geratscht, gelacht und viel Kaffee getrunken. Nach und nach lehrt sich der Raum. Nur Leinweber und Rimner warten immer noch. Um kurz vor elf ist es dann soweit. Ein schriller Pfeifton, der durch Mark und Bein geht, kündigt den ersten Einsatz der Nacht an.

Dann kommt ein Fax mit den genauen Einsatzdaten. Beim Lesen des Faxes müssen die beiden lachen. Krankentransport: Ein Mann soll von der Chirurgischen Klinik in der Nussbaumstraße in die Psychiatrie gefahren werden. 300 Meter Fahrweg.

In der Nussbaumstraße angekommen wissen die beiden sofort, warum er gefahren werden soll: Große, weiße Pflaster bedenken seine Unterarme. Der Mann hat einen Selbstmordversuch hinter sich. Fünf Minuten später ist Einsatz vorbei, es heißt wieder: warten.

In München sind acht Rettungsdienstorganisationen unterwegs. Vier öffentlich-rechtliche und vier private Dienste. Zu ersteren zählen neben dem Roten Kreuz der Malteser Hilfsdienst, die Johanniter-Unfall-Hilfe und der Arbeiter-Samariter-Bund. Außerdem gibt es noch den Rettungsdienst der Feuerwehr, der nur zu Spitzenzeiten im Einsatz ist. Alarmiert wird über die Integrierte Leitstelle der Feuerwehr.

Der Straßenverkehrsordnung zum Trotz

Gegen Mitternacht der zweite Einsatz. Eine verletzte Person in der U-Bahnstation am Stachus. "Bestimmt ein Betrunkener, der die Treppe hinunter gestürzt ist", sagt Leinweber. Dieses Mal geht es mit Martinshorn zum Einsatzort. Ein Freifahrschein.

Über rote Ampeln, gegen die Einbahnstraße, durch die Fußgängerzone und das alles mit Karacho. Thomas Rimner darf so fahren und er kann es auch. Im Stachus-Untergrund finden sie eine Horde Jugendlicher.

Sie werden begrüßt mit den Worten: "Das hat aber lange gedauert." Die beiden schlucken es und kümmern sich um die Patientin. Die 15-Jährige hat Glassplitter im Auge und im Mund - doch kein Betrunkener.

In der U-Bahn hat ein Mann eine Scheibe zerschlagen und sie hat es abbekommen. Viel tun können Leinweber und Rimner für das Mädchen nicht. Sie wird ins Krankenhaus nach Schwabing gebracht, wo es eine Kinderabteilung gibt.

Auf der nächsten Seite: Warum Leinweber Totalabstürze von Jugendlichen gar nicht so schlimm findet.

Mit Jugendlichen hat Leinweber schon einiges erlebt. Vor allem in Verbindung mit Alkohol. So schlimm findet er diese Totalabstürze nicht.

Ganz im Gegenteil. "Zwölf-, 13- oder 14-Jährige die das erste Mal Alkohol in die Finger bekommen, können die Wirkung einfach nicht einschätzen", sagt Leinweber. "Wer aber einmal mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus war, genießt Alkohol zukünftig überlegter."

Denn dort wachen sie nicht nur mit einem dicken Kopf auf, sondern werden auch in Windeln gewickelt. Das sollte abschreckend genug sein.

Um 1.30 Uhr meldet sich abermals der schrille Pfeifton. Kreislaufkollaps in der Schrannenhalle. "Könnte ein Betrunkener sein. Um diese Zeit sehr wahrscheinlich", sagt Rimner. Sein Verdacht bestätigt sich wieder nicht. Eine junge Frau hat zu wenig gegessen und ist deswegen ohnmächtig geworden.

Das große Aufräumen

Als Leinweber und Rimner eintreffen, geht es ihr allerdings schon wieder gut. Nach kurzem Durchchecken wird sie mit der Aufforderung, nach Hause zu gehen, in die Nacht entlassen.

Noch einige Male müssen Leinweber und Rimner diese Nacht ausrücken. Typische Samstagnacht-Einsätze bleiben bis auf das betrunkene Mädchen vor der Muffathalle weiter aus. "Normalerweise werden wir kurz vor Feierabend nochmal alarmiert und räumen die letzten Betrunkenen zusammen", sagt Leinweber.

Das gefürchtete "Aufräumen" um kurz vor 6 Uhr findet nicht statt. Um 6.30 Uhr ist der Dienst der beiden offiziell vorbei. Ins Bett geht es nach Feierabend noch nicht. "Jetzt frühstücken wir erst einmal mit den Kollegen", sagt Rimner. Es gibt Weißwürste und Käsekrainer.

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