Münchner Seiten:Idyll und Elend

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Die Bilder und Fotografien der alten Münchner Herbergsviertel täuschen über die wahren Verhältnisse dort hinweg

Von Wolfgang Görl

In seinen 1924 verfassten Erinnerungen schreibt der Münchner Bildhauer August Prugger: "So wie wir die Herberge immer mehr schätzten, so geht es vielen Herbergsbesitzern, die noch für die alte Bodenständigkeit Sinn und Gemüt haben. Mein Vater sagte oft, mit sechs Roß brächte man ihn nicht aus der Herberge heraus."

Ja, es gab so etwas wie Besitzerstolz in der alten Münchner Herbergswelt, es gab gewiss auch nachbarschaftliche Solidarität und ein Gemeinschaftsgefühl - doch das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Leben in den Herbergsvierteln, etwa in der Au oder Haidhausen, hart und mitunter elend war. Die Häuser waren überfüllt, Wasser wurde von einem öffentlichen Brunnen herangeschleppt, die Bewohner mussten mit einer Gemeinschaftslatrine außerhalb ihrer Behausung vorlieb nehmen, die hygienischen Verhältnisse waren miserabel. Und dennoch begann man bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts, das karge Leben in den Herbergsvierteln zu verklären. Maler und Fotografen pirschten durch die Gassen, um zwischen windschiefen Häusern und staubigen Plätzen idyllische Motive zu suchen. Schon damals begann diese Welt zu versinken.

Heute, da sie so gut wie vollständig verschwunden ist, darf man froh sein über den einstigen Fleiß der Fotografen. Wie es in den Münchner Herbergsvierteln aussah, ist durch viele bildliche Quellen gut dokumentiert. Und dennoch gibt es immer wieder neue Funde, die das bisherige Bild ergänzen. Besonders eindrucksvoll sind zwei kürzlich entdeckte Fotoserien, mit denen Richard Bauer, der ehemalige Direktor des Stadtarchivs, sein soeben erschienenes Buch "Verlorene Lebenswelt" illustriert. Da sind zum einen Aufnahmen aus den Beständen des Stadtarchivs, welche die Veränderungen der Herbergsviertel seit Mitte der 1930er Jahre dokumentieren. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich die Stadt daran gemacht, die Herbergen sukzessive zu beseitigen, teils aus gesundheitspolitischen Erwägung, teils aber auch um Platz zu schaffen für eine lukrativere Bebauung. Diese Entwicklung belegt Bauer in seiner sehr instruktiven Einführung mit Zahlen: "1897 gab es laut dem dafür zuständigen Amt im Raum München insgesamt 2071 Herbergen, davon die Mehrzahl in der Au, gefolgt von Haidhausen und dem Lehel. 1903 waren es noch 1756 Herbergen. Die folgenden Jahre drückten den Bestand weiter, sodass 1914 innerhalb des gesamten Stadtgebietes nur noch 1331 Herbergen gezählt wurden."

Das Haus der Familie Lehner stand nahe dem Max-Weber-Platz und musste den Erweiterungsbauten für das Klinikum rechts der Isar weichen. (Foto: SZ Photo)

Herbergen waren seit dem 16. Jahrhundert vor allem im östlichen Umfeld Münchens entstanden. In den meist aus Holz, später auch mit einem Backstein-Unterbau errichteten Gebäude lebten in der Regel Menschen aus ärmeren Schichten, die als "Nutzeigentümer" der jeweiligen Wohneinheit fungierten. Die Bewohner dieser Viertel standen bei den feineren Münchner Bürgern in schlechtem Ruf: "Noch im 19. Jahrhundert war die Welt der Herbergsanwesen des Münchner Ostens ein vom übrigen Stadtraum streng geschiedener Sonderbereich, der von der Münchner Bürgerschaft eher gemieden wurde und dessen Bewohnern man im Privatleben grundsätzlich misstraute."

Von ganz besonderem Interesse ist die Fotoserie "In der Schwaige 8", die das Leben des betagten Schreinerehepaars Lehner in ihrer Haidhauser Herberge zeigt. Die Bilder nahm ein unbekannter Fotograf im Jahr 1962 auf, also kurz vor dem Abriss der letzten verbliebenen Häuser der Siedlung. In der Tat entsteht der Eindruck einer Idylle mit kleinem Gärtchen, Werkstatt und gemütlichem Beisammensitzen in der kargen Stube - Philemon und Baucis in der "Schwaige". Da ist es gut, dass Bauer diese allzu beschauliche Anmutung korrigiert, indem er die sozialen und hygienischen Missstände in Vierteln wie diesem schildert. Er weist aber auch darauf hin, dass in den um 1900 errichteten, seinerzeit modernen Mietskasernen nicht minder traurige Verhältnisse herrschten. Hier wie dort grassierte die Armut, über die man nicht hinwegsehen sollte beim Betrachten der nostalgische Gefühle hervorrufenden Fotos, die gerade heute, wo noch der letzte Winkel Münchens luxussaniert wird, wie Bilder aus einem verwunschen Märchendorf wirken.

Hier wie dort grassierte die Armut, über die man nicht hinwegsehen sollte beim Betrachten der nostalgische Gefühle hervorrufenden Fotos. (Foto: SZ Photo)

Richard Bauer: Verlorene Lebenswelten. Das Ende der Altmünchner Herbergsviertel. Volk Verlag, 144 Seiten, 19,90 Euro.

© SZ vom 02.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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