Puls-Festival 2015:Mehr Dezibel

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Ein Zauberwesen: die Münchner Sängerin und Bassistin Polina Lapkovskaja mit ihrer Band "Pollyester" beim Puls-Festival. (Foto: Sophie MissMoreMusic)

Beim Puls-Festival treffen lokale Helden auf internationale Stars - und das Publikum feiert. Nur die Musiker und Techniker sind sich nicht immer ganz einig.

Von Dirk Wagner, München

Dass seine Musiker schon beim Betreten der Bühne wie Popstars gefeiert werden, dürfte selbst dem Münchner Rundfunkorchester ein besonderes Erlebnis sein. Ein Erlebnis, das den Orchestermusikern nun in Erlangen und im Münchner Rundfunkhaus zuteil wurde, als sie die Hip-Hop-Formation Die Orsons und die Pfälzer Popband Sizarr beim Puls-Festival begleiten. Zum ersten Mal fand das Festival heuer auch in Franken statt, nämlich im Erlanger E-Werk, wo die Stuttgarter Band Die Nerven nicht gar so sehr um eine angemessene Lautstärke betteln musste wie im Münchner Funkhaus.

Da lieferte sich die beste Punkband seit den Wipers ein nerviges Gefecht mit den Rundfunktechnikern, die die Lautstärke der Rocker so weit drosselten, dass diese schließlich das Konzert mit mehreren Schweigeminuten unterbrachen. Ganz so, als könne man sich für jede Minute ein paar Dezibel gutschreiben lassen, die man dann der nötigen Dynamik wegen später ausspielt. So jedenfalls erklärte die Band ihrem Publikum die Pause. Flüsternd natürlich, damit die Rechnung aufging. Dann lärmten sie wieder los, weit über Zimmerlautstärke, aber noch immer ziemlich laut. Die strengen Auflagen hätten dann auch fast den Auftritt der Antilopen Gang verhindert, die für die holzkistenartige Verkleidung ihres Keyboards kein Brandschutz-Zertifikat vorlegen konnte.

Die Festivalbesucher bekamen von diesen Zwistigkeiten allerdings wenig mit. Sie genossen stattdessen ein vielseitiges Programm, dass lokale Helden wie die Münchner Band Cosby in einen Kontext mit internationalen Stars wie die englischen Rapperin Little Simz oder die mittlerweile in Berlin lebende US-amerikanische Singer-Songwriterin Sara Hartman setzt. Dieselbe Rundfunkanstalt, die vor Jahrzehnten noch nach Riechsalz rief, als die Toten Hosen "Ficken Bumsen Blasen" sangen, gibt sich heute zumindest nach außen betont lässig.

Da empfiehlt der Moderator auf der Bühne auch mal eine Prise Apres-Ski-Pulver vom Hauptbahnhof, da fragt eine Band ihr Publikum auch mal nach Gras, und da singen die jungen Zuschauer jubelnd mit den beiden Sängerinnen und Multiinstrumentalistinnen von der in Hamburg lebenden Band Schnipo Schranke: "Warum schmeckt's, wenn ich dich küsse, untenrum nach Pisse?" Leicht wahnsinnig sieht das um einem dritten Live-Musiker verstärkte Frauenduo in seinen Kleidern und mit seinen verwegen geschminkten Lippen aus, die ein wenig an das breite Grinsen von Batmans Joker erinnern.

"Ich bin doch nur ein Mädchen, wenn auch unrasiert", singen die beiden jungen Frauen, die mit ihren Texten natürlich provozieren, weil man einen derart sexualisierten Blick auf die Welt auch im Jahr 2015 noch eher den Jungs als den Mädchen zugesteht. Ein Vierteljahrhundert nach der Riot-Grrrl-Bewegung mag das zwar verwundern, aber tatsächlich scheinen Schnipo Schranke damit aktuell einen Nerv getroffen zu haben. Zumal ihre Musik so partytauglich ist wie einst die Gassenhauer der Neuen Deutschen Welle.

Musikalisch fordernder und trotzdem nicht minder tanzbar, ist gegen Ende des Puls-Festivals die Münchner Formation Pollyester um die Sängerin und Bassistin Polina Lapkovskaja. Beni Brachtels Synthesizer-Einlagen, die nicht selten an den Sound von Alice Coltrane erinnern, treffen hier auf einen Münchner Disco-Sound, wie ihn einst Giorgio Moroder kreierte. Aufgebrochen wird dieses Gemisch alsbald von Manuel da Colls virtuosem Schlagzeugspiel, das nie den Dancefloor vergisst, auf dem die Sängerin mal Tambourin schlagend, mal Bass spielend hüpft, als könne sie der Erdanziehung trotzen. Ihre Musik wäre ohne Zweifel der beste Treibstoff für die Raumschiffe von Sun Ra. Die Stücke von Pollyester sind auch von dem Wissen gespeist, dass der Jazzmusiker Sun Ra sich als Außerirdischer ausgab, der sein Raumschiff mit Musik antreibt.

Genau diese Komplexität vermisste man beim Auftritt des Rundfunkorchesters, das der Popmusik zweier Bands nur ein paar unbedeutende Bläser- und Streicher-Klänge hinzufügte, die man gut auch einem Keyboard hätte abgewinnen können. Das wäre allerdings weniger gefeiert worden.

© SZ vom 01.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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