München im Netz:Die heimlichen Literaten

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Kostenlose Lesungen, Dampf im Dantebad und Erkenntnisse im Fieberwahn: Ein Streifzug durch das literarische München im Netz.

Lisa Sonnabend

Harriet Köhler räuspert sich, dann liest sie weiter: "Ahnt Ulla etwas davon?" Die Autorin macht eine bedeutungsschwere Pause. "Wenn dein kränkliches Herz wie ein ängstliches Kaninchen in der ergrauten Brust hoppelt, sieht sie nur die Zeitung zittern, hinter der das Ende versucht zu verbergen, dass es angefangen hat."

Screenshot von zehnseiten.de: Harriet Köhler liest aus "Ostersonntag": Kostenlos im Internet. (Foto: Screenshot: zehnseiten.de)

Um diese Szene zu erleben, muss man nicht auf die nächste Lesung der Münchner Schriftstellerin Harriet Köhler warten, sondern es genügt im Browserfenster die Seite www.zehnseiten.de einzugeben. Hier lesen Autoren aus ihren Werken. Zehn Seiten - damit der Zuhörer einen Eindruck von dem Buch bekommt, aber noch nicht zu viel verraten wird.

Die Idee zu dem Projekt kam den fünf Betreibern in einer durchzechten Nacht in einer Münchner Kneipe. Anna Jung und Johannes Wörle sind Buchhändler, Mario Thaler ist Musikproduzent, Per Schönacher Akustiker und Florian Steinleitner Musikmanager - eine ideale Zusammensetzung für ein literarisch-akustisches Projekt. Seit der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Herbst ist die Seite online. Derzeit kann man 30 Lesungen anschauen, jede Woche kommt eine neue hinzu. Eine Internet-Lesung dauert dabei knapp 30 Minuten.

Die Geschichten handeln von zerrütteten Familien wie bei Harriett Köhler, von jüdischen Emigranten 1938 in Shanghai wie bei Ursula Krechel oder von zwei Geschwistern in Wolfratshausen wie bei Thomas Meinecke. Die Autoren lesen mal dramatisch, mal leidenschaftlich, mal wutentbrannt, mal zärtlich.

Die Videos entstehen im uphon-Studio in Weilheim, wo schon die bekannte Band The Notwist ihre Platten aufnahmen. "Die Lesungen sollen so professionell wie möglich sein", sagt Betreiber Johannes Wörle. "Bei Filmen auf Youtube leidet die Qualität oft sehr, davon wollen wir uns abheben." Das Setting ist immer gleich. Der Autor sitzt an einem Schreibtisch, rechts von ihm steht ein Glas Wasser, vor ihm liegt sein Buch. Die Aufnahmen sind auf schwarz-weiß, was der Seite eine besondere Ästhetik gibt.

Zehnseiten ist das derzeit ambitionierteste Münchner Literaturprojekt im Netz. Von den Literaturinstitutionen der Stadt ist im Internet dagegen bislang wenig zu sehen. Zum 850. Stadtgeburtstag organisierte das Literaturhaus München die Fortsetzungsgeschichte "2158" über die Zukunft der Stadt, seitdem ruhen jedoch die Online-Ambitionen. Lediglich kurze Audio-Mitschnitte von Lesungen können Literaturinteressierte herunterladen.

Es sind vielmehr die Seiten einzelner, die das literarische München im Netz ausmachen. Der Schriftsteller Benjamin Stein zum Beispiel präsentiert auf turmsegler.net eigene Gedichte und berichtet von seiner Skepsis gegenüber Handy-Büchern. Die "Kaltmammsell" schreibt auf www.vorspeisenplatte.de über den Dampf im Warmwasserbecken im Dantebad, über verkorkste Theaterbesuche oder über München, wie es in 20 Jahren aussehen könnte. Auf kapinski.wordpress.com liest man von Erlebnissen aus dem nächtlichen München oder Erkenntnissen im Fieberwahn. Karla Paul bespricht in ihrem Blog Buchkolumne Bücher und organisiert derzeit einen Literaturstammtisch.

Auch mehre Münchner Gemeinschaftsprojekte beleben die Literaturszene im Netz. Lesekreis und Klappentext informieren über Termine in der Stadt und rezensieren Neuerscheinungen. Das pdf-Magazin Klappentext ist im März erstmals auch gedruckt erschienen. Für viele ein Grund zur Hoffnung, dass die Literaturszene im Netz endlich ein wenig mehr Aufmerksamkeit erhält. Und dann auch Projekte wie zehnseiten.de mehr Leser finden.

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