SZ-Serie: Bühne? Frei!:Eine andere Art still

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Kerstin Behnke studierte Schulmusik und Dirigat in Hamburg und Berlin. 1997 gründete sie den Chor "Tonikum". Seit 2017 ist sie Leiterin den Münchner Via-Nova-Chors. (Foto: Willi Pleschberger)

Kultur-Lockdown, Tag 95: Die Professorin und Chorleiterin will Musik wieder teilen dürfen

Gastbeitrag von Kerstin Behnke

Es ist still und einsam um die Musik geworden. Konzertorte verkümmern zu stummen Räumen, ihrer klingenden Seele beraubt. Momente des tief bewegenden, gemeinsamen Eintauchens von Publikum und Aufführenden in die Welt der Töne und Geräusche, das einander sonst fremde Menschen für eine Weile eng verbindet, in dem so viel Existentielles ohne Worte ausgedrückt wird, welches Begegnungen ermöglicht mit anderen und mit sich selbst - all das ist aus dem Leben ersatzlos gestrichen.

Der Weg zu einem Konzert ist lang, und Stille und Einsamkeit haben auf ihm ihren Platz: Die Komposition, das Niederschreiben der Noten durch Komponisten und Komponistinnen, das Partiturstudium der Dirigenten und Dirigentinnen und manchmal auch ein Teil des Übens findet alleine und in Stille statt und selbst aus einem Konzert sind die Momente von Stille nicht wegzudenken. Aber dies ist eine lebendige Stille, erwartungsvoll oder nachsinnend, ein Moment des Bei-sich-Ankommens. Die derzeitige Stille ist ausdruckslos und leer.

Kompositionen entstehen mit der Vorstellung von Klang, manchmal schon verbunden mit dem spezifischen Klang eines Ensembles. Ich führe mit dem Via-Nova-Chor München viel zeitgenössische Musik auf. Musik, die in der heutigen Lebenswirklichkeit steht und aktuelle Fragen stellt. Ich bin in ständigem Kontakt mit Komponisten und Komponistinnen. Wir besprechen ästhetische Fragen, die Umsetzbarkeit der Klangvorstellungen, die Interpretation. Was nützt dieser Austausch, wenn die Komposition nicht erklingen darf? Historische und zeitgenössische Musik kombiniere ich so, dass sich eine verbindende Idee wie ein roter Faden durch das Programm zieht; neue, anregende und inspirierende Perspektiven öffnen sich. Aber warum ein Programm zusammenstellen für ein Konzert, dass niemals stattfinden wird?

In den Proben wächst und erblüht die Klanggestalt der Kompositionen. Sie beginnen zu leben, jedes Ensemblemitglied bereichert mit seinem individuellen Zugang die Interpretation, prägt den Klang und ist zugleich in ihn eingebunden. Das Ensemble wächst mit jeder Einstudierung aufs Neue zusammen, es verbindet sich mit der Musik, bis diese scheinbar schwerelos im Raum schwebt. Die Musik trägt die vielen existenziellen Gedanken und Gefühle in sich, die sie vom Kompositionsprozess über das Studium bis zur Einstudierung begleitet haben. Wo finden diese Gedanken und Gefühle ihren Ausdruck, wenn sie nicht mehr in der Musik aufgenommen werden?

Und dann der kostbarste Moment, in dem all dies mit dem Publikum geteilt wird, in dem Menschen an einem Ort zusammenkommen, an dem Musik erklingt. Sie kommen aus ihrem eigenen Alltag und prägen allein mit ihrem Dasein noch einmal die Wirkung des Werkes. In den magischen, flüchtigen Augenblicken eines Konzertes entsteht ein Fluss durch die Zeiten, von der ersten vagen Idee bis zum raumgreifenden Klangerlebnis im Konzert, von den Komponisten und Komponistinnen durch mich hindurch, durch das Ensemble, hin zum Publikum, und wieder zurück. Aber der Fluss ist vertrocknet, es herrscht eine schreckliche Dürre und Ödnis. Wer kann uns sagen, ob diese Wüste wieder erblühen wird?

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© SZ vom 04.02.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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