SZ-Serie: Bühne? Frei!:Der Rest ist Geschichte

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Jason Seizer ist Jazz-Saxofonist, Komponist, Produzent, Leiter des Labels "Pirouet" und war einige Jahre Gastgeber seines "Jazz Salon" im Schwabinger Heppel & Ettlich. (Foto: Konstantin Kern)

Kultur-Lockdown, Tag 93: Der Saxofonist findet in der Musik zu sich

Gastbeitrag von Jason Seizer

Am dritten Januarwochenende des Jahres 2020 habe ich, inspiriert von Kölner und Berliner Musikinitiativen, ein kleines Jazzfestival in Schwabing veranstaltet. Die Presse hilft, der Bayerische Rundfunk zeichnet auf, die Stadt München ist auch mit im Boot. Das Motto lautet "Jazz im Wohnzimmer", das Festival nenne ich "Muctones". Im kleinen Theater Heppel & Ettlich in Schwabing überleben an drei Abenden jeweils hundert Menschen dicht gedrängt. Nach dem letzten Abend sind wir alle von der Musik berauscht, ich erschöpft und schwer erkältet. Der Termin für "Muctones II" vom 28. bis 30. Januar 2021 steht, der Ü-Wagen des BR ist bestellt. Kurz darauf kommt Corona. Der Rest ist Geschichte.

Keine Musik zu hören in Schwabing, in München oder anderswo. Zumindest nicht live. Wer technisch ausgerüstet ist, kann Konzerte streamen. Ist das jetzt das neue live? Künstlerinnen und Künstler hatten schon im ersten Lockdown angefangen, aus der Not eine Tugend zu machen. Es wurde fleißig gestreamt, Videos aller Qualitätsstufen überfluten seither Youtube, Instagram & Co., Vieles umsonst. Ein Freund und Kollege von mir ist von Anfang an dabei, baut einen Youtubekanal auf. Er hat eine "gute Community", also viele Zuschauer. Etwas später, als ihm das Geld ausgeht, wünscht er sich Solidarität in Form von fünf Euro pro Produktion. Und hat plötzlich keine Community mehr. Ich selbst durfte in den zuletzt bei einigen Videoproduktionen dabei sein, doch als Konsument funktioniert Streaming für mich nicht. Nach einigen Minuten bemerke ich, dass ich einfach nur auf einen Bildschirm starre. Im vergangenen Jahr wurden mir um die 50 Konzerte abgesagt. Nachdem keiner weiß, wie es weiter gehen wird, ist es schwierig zu planen, daher wird es auch dieses Jahr nicht wirklich besser werden - zumindest gehe ich davon aus. Schön, wenn es doch anders kommen sollte.

Und was tun, was machen mit und in der verlorenen Zeit? Gibt es das überhaupt, verlorene Zeit? Ich meine nein. Vielleicht hilft es, dem eigenen Empfinden einen Namen zu geben? "Der vorbei rauschende Stillstand" hat es ganz gut für mich getroffen. Aber es gibt auch eine Art Dankbarkeit.

Dankbarkeit dafür, in der Gruppe der Bevölkerung zu sein, die noch nicht zur Risikogruppe gehört und doch schon jenseits der 50 ist. Die ersten 30 Jahre des Lebens ohne Internet gelebt zu haben, ja gar ohne Mobiltelefone, geschweige denn Smartphones, ist ein Reichtum. Mir fällt auf, dass ich zu diesem Lebensgefühl schnell zurückfinde, indem ich mich ein wenig zurückziehe, die Geräte ab- und das Wifi ausschalte. Nach einem Abstecher in die Welt des übermäßigen Alkoholkonsums schlage ich den Weg zur inneren Einkehr ein. Meditation hilft, mich auf das zu konzentrieren, was mir immer am wichtigsten war. Die Musik selbst. Sie soll, darf weiterhin meine Begleiterin sein, auch und eben jetzt in diesen Zeiten.

Ich beginne neue Musik zu komponieren. Ende März habe ich mit meinem Quartett eine Woche im Studio eingeplant, wir werden proben, zusammen essen, trinken, lachen, tanzen. Und es wird sich so ein wenig anfühlen wie vor Corona. Nein. Besser, denn wir sind alle an Erfahrung reicher. Und es ist an jedem einzelnen von uns, etwas daraus zu machen. Dies soll mir selbst eine Ermunterung sein für die nahe und fernere Zukunft. Komme was wolle.

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© SZ vom 02.02.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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