SZ-Serie: Bühne? Frei!:Trost der Zaubersprüche

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Die in München lebende Schriftstellerin Birgit Müller-Wieland hat Gedichtbände, Erzählungen, Hörspiele und Libretti veröffentlicht, zuletzt 2017 den Roman "Flugschnee". (Foto: Andrea Huber)

Kultur-Lockdown, Tag 92: Die Schriftstellerin über zerfranste Zukunftsaussichten

Gastbeitrag von Birgit Müller-Wieland

"Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch". Ja, so ist es. So einfach, pathetisch und zwingend. Wenn die Panikgeister toben wollen, blinkt dieser Satz aus Hölderlins Hymne "Patmos" in meinem Hinterstübchen auf. Oder ein anderer von Dichtern und Dichterinnen. Deren Sprachlust, Trost und Widerstand erscheinen mir seit letztem Jahr essentieller denn je: Zaubersprüche gegen den Widersinn. Wie ein Leuchtrand legte sich oben zitierter Vers um jede gute Nachricht, die im letzten Jahr über die Bildschirme flimmerte. Eine magere Ausbeute, aber: Es gab sie!

Welche Erleichterung, als endlich, nach langen, bangen Tagen, der Sieger der US-Wahl feststand, beispielsweise. Alleine die Vorstellung, es wäre anders ausgegangen: In welche Depressionen hätte uns diese Tatsache gestürzt? Oder jene Mail, in der mir eine Freundin schrieb, dass sie ohne die Quarantäne-Bestimmungen nie gezwungen worden wäre, mit ihrem neuesten Flirt, einer unerwarteten Begegnung am anderen Ende des Landes, eine Entscheidung zu fällen. Sie, die bildende Künstlerin, er, der Musiker, hatten wenige Tage Zeit für: Ja oder nein. Und wenn ersteres: Wer zu wem? Ach, sie wagten alles! Und nun sei eine große Liebe daraus geworden, schreibt meine fünfundsechzig Jahre alte Freundin, ein spätes Geschenk des Lebens, sie fühle sich verrückt und lebendig wie ein Teenager. Ein Stichwort. Das mich flugs auf eine der dunklen Seiten der Geschichte katapultiert, die ich als Mutter tagtäglich erlebe, sozusagen hautnah. Für Teenager bedeutet Corona vor allem: Nicht-Leben. Kein Kino, Tanzstudio, Sport, Chor, Konzert, kein realer Austausch mit anderen, kein seit Jahren erträumter Auslandsaufenthalt, weder in Europa noch sonstwo, und, so meine Annahme, da niemand darüber spricht, vielleicht am drängendsten: keine erste Liebe. (Oder zweite, dritte.) Schon die Vorstellung eines Kusses muss dieser Generation den Angstschweiß auf die Stirn werfen.

Verglichen mit diesen Nöten junger Menschen sowie deren zerfranster Aussicht auf die Zukunft erscheint mir der Verlust von Lesungen und Projekten gering, so sehr jede Absage auch schmerzte. Noch nie war mir bewusster, wie privilegiert das Schreiben ist. Dennoch gab es diesen nebelhaften Zustand des Nicht-Schreiben-Könnens im ersten Lockdown, aus dem mir das Einhorn im Märchenwald half, die Pinguine und Delfine im Polareis, die Vogelperspektive auf den Marienplatz - Puzzles, die ich hervorkramte und wochenlang legte, ein braves Konzentrieren auf Zersplittertes, das zusammengefügt werden will. Als die innere Ruhe halbwegs wiedergewonnen war, ging's erneut an die Arbeit, ein Buch wurde weitergeschrieben, fertiggebracht, und vielleicht kann die Frankfurter Buchmesse doch stattfinden, wer weiß.

Noch ist Winter. Ich sehe unserem Hund zu, schwarz auf Glitzerschnee, die Ohren wie Propeller, die wirbelnden Pfoten in der Luft. So konstant wie nie zuvor war das Rudel in diesem Jahr beisammen, er ist der Glücklichste von uns, zeigt es Tag für Tag. Am Bildschirm: Wir haben die Mutationen, aber auch die Aussicht auf Geimpft-werden. Und die Welt und wir noch einige Jahre die Möglichkeit, es wachsen zu lassen: das Rettende.

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© SZ vom 01.02.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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