SZ-Serie: Bühne? Frei!:Der Künstler als Buchhalter

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Kultur-Lockdown, Tag 132: Der Orchestermusiker über seine verschiedenen Identitäten

Gastbeitrag von Frank Reinecke

Süskind's "Kontrabass" gipfelt in einer Publikumsbeschimpfung: "Warum soll es mir besser gehen als Ihnen? Ja, Ihnen! Sie Buchhalter! Exportsachbearbeiter! Fotolaborantin! Sie Volljurist!...". Ein Motiv, wie in Fernando Pessoas "Buch der Unruhe": "Wir alle, die wir träumen und denken, sind Hilfsbuchhalter, wir führen Buch und erleiden Verluste." Ich schreibe hier als realer Musikarbeiter, und schlage vor, wie die Stellenbeschreibung eines Orchestermusikers künftig aussehen könnte: "Bereit zu vielfacher Identität mit gegensätzlichen Eigenschaften: künstlerische Individualität, technisch perfektes Virtuosenhandwerk mit herdengerechter Anpassungsfähigkeit und leidenschaftlicher Emotionalität."

Was ist das, ein Orchester? "Einzeln sind sie ja sehr nett!", sagte einst ein berühmter Dirigent über ein berühmtes Orchester. Ich sitze zwischen den Stühlen und kapituliere vorläufig. Wer bin ich? Ich wohne dem Ausschlüpfen meines Denkens bei: Ich betrachte es, ich lausche ihm: Ich mache einen Bogenstrich: Die Symphonie erzeugt ihren Aufruhr in den Tiefen oder stürmt mit einem Satz auf die Bühne." Nach vielen unserer wunderbaren Konzerte, draußen im Freien, musste ich mich so oft erst wieder aufsammeln und zusammensetzen. Zuhause im Lockdown... bin ich ein anderer...

Beginnt nun das Märchen von der Entschleunigung in kreativer Idylle? Es wäre kurz. So beginnt die Achterbahn der Unruhe: Geist ist kein Schöngeist. Wäre Auf-die-Lange-Bank-Schieben olympische Disziplin, ich hätte Gold. Ein Über-Ich tönt in mir, wie in der Zauberflöte: "Die Wahrheit! Die Wahrheit, sei sie auch Verbrechen!", und mein innerer Papageno seufzt: "O wär ich eine Maus, Wie wollt' ich mich verstecken!". Papier ist geduldig, frische Partituren nicht: Aus ihnen leuchtet die Lust auf Verwirklichung. Ich lese neue Notenskizzen, nehme das Instrument in meine Hände: neue Musik entsteht. Eine Musik erwächst aus sich selbst, wie eine Pflanze, als deren Gärtner ich sie pflege, auf dem fauligen Humus der Erfahrung, unter der Sonne der Begeisterung. Und hüte dich, eine "Interpretation" begehen zu wollen, "an den eigenen Haaren herbeigezogen". Der alte Filmkassiker "Rififi" demonstriert, wie man als Musiker vorgehen soll: die Juwelen abräumen ohne Fingerabdrücke zu hinterlassen.

Hände und Ohren wissen oft mehr als der Kopf. Die schwingende Körperlichkeit des "Saitenspiels" eröffnet die individuelle Teilnahme am Genie des Kosmos. Was dann geschieht, kann nur ein Dichter in Worte fassen. Henri Michaux schrieb: "Die Wortfabrik verschwindet, ertrinkt schwindelnd und ganz einfach ... seltsames Gefühl: Man findet die Welt durch ein anderes Fenster wieder. Wie ein Kind muss man gehen lernen. Man weiß nichts ..."

Es ist Mitte März, die Schneeglöckchen trauen sich was, und die Sonne scheint nicht nur so - und wir schlagen bald neue Wege ein, gemeinsam mit Sir Simon, mit einem hungrigen Publikum, und unserem Orchester: nicht als sperriges Möbelstück des Kulturbetriebs, sondern als lebendige, klingende Utopie einer polyphonen Gemeinschaft, die das ichlose Mysterium symphonischer Energien ins Leben zurückruft: Wenn die Klänge uns wieder ahnen lassen, dass uns mehr verbindet, als uns trennt. Wenn sich wieder Mahlers Sechste wie der Golem gefährlich über uns aufrichtet. Wenn wir mal wieder kurz vergessen, dass wir alle irgendwie Hilfsbuchhalter sind. Bald hoffentlich.

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© SZ vom 13.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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