Mitten in Ramersdorf:Das Gesetz der Evolution

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Warum man beim Verhalten mancher Münchner Autofahrer an Darwinfinken denken kann

Von Hubert Grundner

Welche Gemeinsamkeiten haben Darwinfinken und Münchner Autofahrer? Nun, zunächst mal weniger, als man denkt. Die einen flattern munter über die Galapagosinseln und genießen ein luftiges Leben in Freiheit. Die anderen rollen mit ungezählten Zwischenstopps auf die nächste Verkehrsinsel zu und lugen ziemlich verspannt hinter ihren Lenkrädern hervor. Insofern ist die Wahrscheinlichkeit, einen Darwinfinken mit einem Münchner Autofahrer zu verwechseln, eher gering.

Und doch teilen sie ein Schicksal, dem alle Kreatur unterworfen ist: Sie unterliegen den Gesetzen der Evolution. Einen entscheidenden Beitrag zu ihrem Verständnis lieferte bekanntlich der Naturforscher Charles Darwin mit seinem Buch "The Origin of Species", in dem er über die Entstehung der Arten schreibt. Eine Weise, auf welche das geschieht, bezeichnet man in der Biologie als adaptive Radiation. Darunter versteht man die Entstehung vieler neuer Arten aus einer einzigen Stammart heraus, die irgendwann damit beginnt, unterschiedliche ökologische Nischen zu besetzen. Als Paradebeispiel für adaptive Radiation gelten die erwähnten Darwinfinken. Insgesamt gibt es 14 nah verwandte Arten, die allesamt von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen. Auffallend sind vor allem die unterschiedlichen Schnäbel der Darwinfinken, die auf unterschiedliche Ernährungsgewohnheiten hinweisen. Bei den einen stehen beispielsweise Samen und bei den anderen Insekten auf der Speisekarte. Wissenschaftler sprechen hier vom Prinzip der Konkurrenzvermeidung.

Dieser Weg ist dem Münchner Autofahrer innerhalb seines natürlichen Habitats leider verwehrt. Alleine schon wegen der Fahrzeugdichte ist an Konkurrenzvermeidung erst gar nicht zu denken. Trotzdem gilt auch hier: Die Natur kommt am Ende immer zu ihrem Recht. So lässt sich gerade an der Hofangerstraße in Echtzeit die Entstehung einer neuen Art des Münchner Autofahrers beobachten, der sich auf eine besondere Form der Parkraumbewirtschaftung zu spezialisieren scheint: Immer nutzt er den vorhandenen Stellplatz nur zur Hälfte. Beidseits der Straße stehen die Autos also mit zwei Rädern auf dem Gehweg und mit zwei Rädern auf der Straße, der halbe Parkplatz bleibt leer. Zu beobachten ist dieses Phänomen ausschließlich zwischen Bad-Schachener- und Berger-Kreuz-Straße. Wer aber war der erste Autofahrer, der so parkte, und warum folgten ihm die anderen? Ist es als freundliches Angebot an andere Wagenlenker zu verstehen, nach dem Motto: Komm, auf den Parkplatz passen wir beide drauf! Oder ist es im Gegenteil eine aggressive Geste in Richtung Fußgänger, nach Art von Rüden, die ihr Revier markieren? Man weiß es nicht. Nur eins ist sicher: Manche Arten überleben, andere sterben aus.

© SZ vom 28.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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