Mitten in Neuhausen:Ein Versuch über das Absurde

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Spinnen hatten schon in der Antike einen schweren Stand. In der Gegenwart ist das nicht anders. Doch philosophisch gesehen sind sie glückliche Tiere

Kolumne von Johannes Korsche

Schon in der griechischen Mythologie haben Spinnen nichts als Ärger. Man denke an die arme Arachne, die sich erdreistete, bei einem Wettbewerb mit der Göttin Athene einen dermaßen schönen Teppich zu weben, dass selbst Athene nicht umhin konnte, ihn zu loben. Weil sich Arachne aber zu hochmütig für das Göttinnengemüt zeigte, fand sie sich wenig später als Spinne am Boden wieder. Was für eine Strafe. Wer will schon gerne auf acht behaarten Beinen durch sein Leben staksen.

Auch heute haben Spinnen einen schweren Stand. Wenn sie aus Häusern und Wohnungen vertrieben werden, müssen sie anderswo Obdach suchen, beispielsweise in geparkten Rollern am Straßenrand. Und schon beginnt eine Reise, die von Neuhausen in die griechische Mythologie und weiter mitten hinein in die existenzialistische Philosophie führt. Aber der Reihe nach.

Jede Nacht aufs Neue spannt die Spinne ihr kleines Fangnetz zwischen dem Lenker und der Frontverkleidung des Rollers. Zufrieden mit ihrem Nachtwerk zieht sie sich wieder in ihr Wohnzimmer irgendwo in der Karosserie zurück und wartet auf Insekten. Doch jeden Morgen aufs Neue springt der Motor an und bringt ihre Zimmerdecke zum Wackeln. Es wird nicht lange dauern und das mühsam gespannte Netz wird zerreißen, spätestens in der ersten Rechtskurve. Und wie reagiert die Spinne? Sie lässt sich nicht entmutigen, fängt immer wieder von vorne an. Webt in der nächsten Nacht wieder, hofft einfach, dass sie wenigstens ein Mal die Früchte ihrer Arbeit ernten darf. Es ist fast so, als ob sie jede Nacht einen Stein auf einen Berg rollen würde, der dann ... Man mag es erkennen: Diese Spinne hat einen Leidensgenossen, sie ist der moderne Sisyphos.

Nun könnte man auf den ersten Blick Mitleid mit ihr haben. Aber wie Albert Camus schon wusste, ist Sisyphos der Beneidenswerte, sollte uns gar als Vorbild dienen. Denn - mal ganz frei nach dem französischen Existenzialisten - der "Kampf gegen Rechtskurven vermag ein Spinnenherz auszufüllen". Heldenhaft hat sie ihre Freiheit im Weben des Netzes gefunden, unbeeindruckt von der scheinbaren Sinnlosigkeit ihres Tuns. Wir müssen uns den Spinnen-Sisyphos als eine glückliche Spinne vorstellen.

© SZ vom 31.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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