Mitten in Neuhausen:Der Frühling kann fliegen

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Man muss nicht nach Brasilien reisen oder in den Botanischen Garten gehen, um Schmetterlinge zu sehen. Man braucht dafür nur die wachen, neugierigen Augen eines Kindes

Von Jutta Czeguhn

Er ist früh dran. Oder ist es normal, dass er sich um diese Jahreszeit schon herumtreibt? Der Mann, der da an der Sichtbetonmauer auf dem S-Bahnsteig an der Donnersbergerbrücke in der Mittagssonne lehnt, hat ihn noch nicht bemerkt. Jetzt flattert er ihm vorwitzig ums Hosenbein. Ziemlich munter für einen, der gerade aus dem Winterschlaf gekommen ist oder eben erst geschlüpft. Wie läuft das bei den Schmetterlingen eigentlich? Bei diesem Exemplar sind schon alle Lebensgeister geweckt. Jetzt sitzt er auf den Kunstpelz einer Anorakkapuze, klappt die Flügel im Takt. Doch auch die junge Frau nimmt ihn nicht wahr, stiert auf ihr Handy-Display, wohin auch sonst. Es scheint, als wolle der Falter um jeden Preis Aufmerksamkeit bekommen. Hey, schaut endlich mal einer her, mich gibt's!

Ein Kind im Buggy, es mag noch keine zwei Jahre alt sein, hat seinen Kopf schrägt gelegt. Wie hypnotisiert mit offenem Mund starrt es auf die Sichtbetonwand, hebt zaghaft eine Hand in die Luft. Kinder und Schmetterlinge, eine besondere Beziehung. Faszinierend und auch ein wenig gruselig war es immer als Kind, wenn man Opas Sammlung betrachten durfte. Akkurat in Reihen auf Nadeln gespießt, schimmerten die Falter violett oder smaragdgrün hinter Glas, tot und schön. Dann gab es da auch diese Tabletts und Weinglasuntersetzer, exotische Mitbringsel von jemanden, der immer mit dem Bananendampfer nach Brasilien fuhr, zu seinem Sohn, der im Krieg . . .

Aber die Geschichte wurde dann stets vertuschelt. Das Kind glaubte damals, in Brasilien gebe es Leute, die nichts anders zu tun hätten, als Schmetterlingen die Flügel auszureißen und dann unter Glasscheiben zu pressen. Nie wollte man deshalb dorthin fahren, nach Brasilien. Und als man dann viel später tropische Schmetterlinge im Botanischen Garten so putzmunter herumflattern sah, war man sehr erleichtert.

Jetzt ruft das Kind auf dem Bahnsteig an der Donnersbergerbrücke etwas, deutet mit dem Finger Richtung Wand, wippt aufgeregt im Buggy. Nun blickt seine Mutter hinüber - und auch die Anorakträgerin und der Mann sehen ihn endlich, den Schmetterling.

© SZ vom 14.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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