Mitten in München:Gscheid verfranzt

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Wie eine Irrfahrt mit der Straßenbahn für die Mitreisenden zur Tour durch ein einsames Leben wird

Kolumne von Jutta Czeguhn

Trambahnhaltestelle Vogelweideplatz. Zwei starke Arme stemmen eine alte Frau nach oben in die Straßenbahn. "Fahrn S' durch bis zum Hauptbahnhof, Sie müssen zurück zum Hauptbahnhof!", ruft ihr eine kräftige Stimme aus dem Dunkel draußen hinterher, dann schließen sich die automatischen Türen. Die Frau tastet sich mit ihrem Stock zu einem der Einzelsitze und lässt sich ächzend nieder. "Herrschaft, da hab' i mi aber gscheid verfranzt", sagt sie laut zu sich selbst. Es klingt eher belustigt als alarmiert, und ist ein ziemlich guter Eröffnungssatz für ein Gespräch unter Mitreisenden. Doch die kauern müde auf ihren Plätzen, typisches Feierabendpublikum, die Aufmerksamkeit reicht gerade noch fürs Handy, Augenpaare starren abwesend auf die beleuchteten Schaufenster, die an der Fensterscheibe vorbeiziehen.

"Wissen S', eigentlich wollt' ich nach Schwabing", erzählt die alte Frau, wie an ein Publikum gerichtet, am Hauptbahnhof sei sie dann irgendwie durcheinander gekommen mit den Tramnummern. Nach Schwabing? Draußen zieht gerade die Einsteinstraße vorbei. Verstohlene Blicke streifen die Gestalt, sie muss uralt sein, wie sie da in einem viel zu großen Mantel steckt. Ihre schlohweißen Haare haben sich aus dem Dutt gelöst. Knochige, blaugeäderte Hände halten den Gehstock umklammert, zuweilen klopft sie damit auf den Boden, um ihre Worte zu unterstreichen. Denn sie hat viel zu berichten. Auch jene, die es nicht hören wollen, erfahren von den Kindern ihrer Pflegerin, dem letzten Arztbesuch, der Verwandtschaft in Niederbayern. Die Tram ist nun auf der Maximilianstraße unterwegs. "Mei, die Oper, früher! Einmal bin ich sogar nach Mailand gefahren." Plötzlich versucht sie zitternd aufzustehen, nächste Haltestelle Nationaltheater. "Sie wollten doch zum Hauptbahnhof?", wendet - endlich - jemand ein, und alle starren erwartungsvoll besorgt auf die Frau. "Ich nehm' ein Taxi an der Oper", erklärt diese, "kostet einen Zehner, mei, is halt ein Kaffeebesuch weniger". Eine Frau hilft ihr bei Aussteigen, aus dem Fenster sieht man, wie die alte Dame sich bei ihr unterhakt und munter weiter erzählt.

© SZ vom 13.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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