Mitten in Milbertshofen:Das Glück braucht Zeugen

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Einer raus, einer rein, vierter sein: Warten nervt. Aber wie schön es ist, dass am Ende alles gut ist

Kolumne Von Nicole Graner

Tür auf, einer raus, einer rein, vierter sein". So beginnt das Gedicht "Fünfter sein" des österreichischen Lyrikers Ernst Jandl (1925-2000), das in seiner ellipsenhaften, verknappten Sprache eine Szene beschreibt, von der viele Menschen ein Lied singen können: vom langen Warten beim Arzt. Manche Menschen müssen oft dahin. Nicht weil sich ihre Nase gerade verflüssigt oder sie Unmengen an Eukalyptus-Bonbons zerlutschen, sondern weil sie sich regelmäßig Kontrolluntersuchungen unterziehen müssen. Da wird das Warten zur Routine.

Ganz, also ganz, ganz früh aufstehen, damit man eine gute Nummer bekommt: Tür auf, Nummer ziehen - die Nummer sieben, also ganz weit vorne. Warten, Zeitung lesen. Es leuchtet die Sieben auf dem Bildschirm im Wartezimmer auf: Tür auf, Kabine 1, Siebter sein und das Voucher entgegennehmen für die Zugangsberechtigung zur eigentlichen Untersuchung. Tür zu. Stühle im nächsten Flur. Warten, Zeitung lesen, dann plötzlich Erster sein.

Das Warten nervt. Aber wie schön es ist, dass am Ende alles gut ist - schnell ist die Warterei vergessen, aber der Wunsch, sich zu belohnen, geboren. Ein kleiner Bummel, ein Kleid vielleicht oder ein neues Paar Schuhe, einen Kaffee hier, einen Prosecco dort. Das Glücklichsein muss gefeiert werden. Und wie schön ist es, wenn man andere am Glück teilhaben lassen kann.

Jüngst in der Sitzung des Bezirksausschusses Milbertshofen-Am Hart zum Beispiel. Da lagen plötzlich "Celebrations" auf allen Tischen. Also diese roten Boxen, die sich mit zwei Handgriffen so wunderbar wie eine Blume entfalten und Bonsai-Schokostückchen freigeben. Eine Frau hatte sie verteilt, weil sie ihr Glück mit allen teilen wollte: ihr Glück, nach einer schweren Krankheit und nach vielen, vielen Wartestunden beim Arzt wieder ganz gesund zu sein. Es sei der glücklichste Tag in ihrem Leben, sagt sie, und der schönste. Ihre Freude steckt an. Man nascht "auf sie". Es wird die süßeste Sitzung, die es bisher gegeben hat.

© SZ vom 26.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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