Mitten in Laim:Das große Knabbern

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Auf einem überwuchertem Balkon ist man zuhause nie allein. Zumindest nicht im Sommer

Kolumne von Sonja Niesmann

Sensibilisiert von Berichten über das Bienensterben und den dramatischen Artenschwund generell wagt man es schon gar nicht mehr, bisher präferierte Balkonpflanzen wie Löwenmäulchen oder Dahlien einzutopfen. Insektenfreundliche Pflanzen müssen her. Also nimmt man zum Beispiel diese hübsch duftende Blume mit den lilafarbenen Dolden. Nach drei Wochen ist sie leider total verlaust, nach einer weiteren Woche - trotz Gießens - total vertrocknet. Bienen hat man kaum geortet: Haben die das Schild vom Gartencenter - "Honey, bee mine!" - nicht registriert?

Macht aber nichts. Der von einem holzgetäfeltem Giebel überdachte Balkon ist überwuchert von Wildem Wein und der erweist sich als das wahre Insekten-Paradies. Hunderte Bienen und Wespen fliegen an, weiden die Blüten ab. In die flirrende Hitze dieser Tage mischt sich Stund' um Stund' ein Grundton aus Summen und Sirren. Und offensichtlich sind Bienen und Wespen vom reich gedeckten Tisch inzwischen völlig berauscht. Sie schießen im Tiefflug über den Balkon, versuchen Punktlandungen auf der Nase, taumeln ins Wohnzimmer, stürzen ineinander verkeilt ab auf Sitzpolster. Man sehnt sich ein bisschen zurück in die Tage, als vereinzelte Wespen am Schinken gesäbelt haben und man gelassen weiter gefrühstückt hat, nach dem Motto: Lass du uns in Ruhe, wir lassen dich in Ruhe.

Wenn die Sonne hinter dem Nachbarhaus untergeht, sind die Summer schlagartig weg. Das wäre der Moment also des Wechsels, vom bienenfreundlichen Balkon zum bewohnerfreundlichen Balkon. Stattdessen vollzieht sich nahtlos ein anderer Wechsel: Eine Armee bisher nicht zu ortender, deshalb nicht zu identifizierender Tierchen fällt ein ins Blattwerk. Es beginnt - das ganz große Knabbern. In Fitzelchen und Fasern zerlegt, rieseln unablässig die kleinen, grünen Beeren des Wilden Weins wie Schnee - bloß nicht so lautlos - herab, auf den Boden, auf die Brüstung, auf den Tisch, die Teller, die Gläser.

Und während man dem Geriesel leicht fassungslos zuschaut, erinnert man sich plötzlich an Roald Dahls "Konrädchen bei den Klitzekleinen". An den Blutsaugzahnbrechknochenknackgeiferer.

© SZ vom 13.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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