Mitten in Hadern:Specht sein, heißt laut sein

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Warum nur arbeitet sich ein Vogel durch die Wand eines Ärztehauses? Womöglich passen ihm die Löcher vom Vorjahr nicht mehr

Von Berthold Neff

Es geschah an einem Samstag dieses wunderbaren Herbstes, der dem wunderbaren Sommer so langsam den Rang abläuft. In die wohltuende Stille, die man sich nach dem Geheule des Laubbläsers redlich verdient hat, kracht ein markerschütterndes Geräusch, ein Ton wie ein Paukenschlag. Das ganze Gebäude erzittert, und während der Schall des ersten Schlages vibrierend im Viertel verklingt, folgt schon der nächste: Ein Specht arbeitet an der Hauswand gegenüber.

Aber warum nur? Dort oben, knapp unter der Rinne, klaffen doch noch die beiden Löcher, die er vergangenes Jahr in die Wärmedämmung gehackt hat. Passen ihm diese Bruthöhlen nicht mehr, sind sie für sein lautes Ego zu eng geworden, propagiert die Zeitschrift Schöner Wohnen neuerdings ganz andere Formen der zeitgemäßen Behausung?

Oder ist er ein Zauderer, jemand, der sich nie entscheiden kann? Ornithologen neigen offenbar dazu, ihn in diese Ecke zu stellen. "Er beginnt viele Höhlungen auszuarbeiten, bevor er eine einzige vollendet", lassen sie sich herablassend über ihn aus. Aber vielleicht kommt es ihm gar nicht darauf an, Haus- oder Höhlenbesitzer zu sein? Vielleicht will er einfach nur Krach um des Krachs willen machen, einfach nur, weil er ein Schlagzeuger ist und sein Trommeln nicht nur dem Anlocken der Weibchen, sondern auch der Revierabgrenzung dient.

Es ist schwer, diesen Kerl zu verstehen. Klar ist, dass er mit dem Balzen ein bisschen zu früh begonnen hat, vor dem nächsten Frühling kommt ja noch der Winter. Den werden die Bewohner des Ärztehauses, in das er seine tiefen Löcher hackt, schon noch spüren, so ohne Wärmedämmung an den entscheidenden Stellen. Klar ist auch, dass er ein Schlaumeier ist. In seinem Terminkalender hat er mit Bedacht den Samstag für den Beginn des Hackens vorgemerkt, um ungestört zu werkeln. Da ist nämlich das Ärztehaus leer: Ärzte, Helferinnen und Patienten - alle ausgeflogen.

© SZ vom 06.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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