Mitten in Giesing:Urlaub auf dem Zahnarztstuhl

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Wenn die Gegenwart kaum zu ertragen ist, helfen gespeicherte Glücksmomente

Kolumne von Renate Winkler-Schlang

Stundenlang kopfüber auf einem Stuhl, den Kopf schräg, bis endgültig alle Halsmuskulatur verspannt ist, den Mund offen. Der Bohrer macht Krach, die Patientin nimmt das als extrem laut wahr, das macht der Körperschall: Man hört offenbar auch von innen. Nein, ich bin gar nicht da. Zeit ist doch relativ, man kann sie zurückspulen. In Wirklichkeit bin ich noch auf dem Lieblingscampingplatz in der Toskana, ein paar Schritte nur zum traumhaft breiten Strand, den Wellen.

Kleine Wassertröpfchen, die der Bohrer mit ausstößt, bilden Rinnsale, die unterm Rollkragen den Hals nass machen, die freundliche Helferin tupft mit dem weißen Zellstoff-Lätzchen. Die Zahnärztin ist hoch konzentriert, schließlich soll da eine veritable Brücke gebaut werden, keine kleine über ein schmales Bächlein, eher schon ein massives Werk Marke Hackerbrücke. Bloß nicht drüber nachdenken! Statt dessen Flucht im Kopf: Sand, Wind, ein paar Kite-Surfer zaubern ein Drachen-Ballett an den blauen Himmel.

Oh je, die Spritze hat zwar eine dicke Lippe hinterlassen, trotzdem meldet sich ein empfindlicher Nerv. Zwischendurch hochgehievt: Riesen-Spangen im Mund, gefüllt mit einer Art bunter Knetmasse für die Abdrücke, lassen einen nach Luft ringen. Egal, bald ist es Zeit für den schönen roten italienischen Sonnenuntergang, die Sonnenanbeter prosten sich zu mit ihren langstieligen Camparigläsern.

Das ist die Erkenntnis eines sehr langen Zahnarzttermins: Es geht wirklich - Sonnenstrahlen, Wind und Wärme auf der Haut, das Blau von Himmel und Meer lassen sich auf Vorrat speichern, im Inneren mitnehmen für schlechte Zeiten. Leo Lionni hat das vor vielen Jahren beschrieben in seinem Kinderbuch von der Maus Frederick, die statt Weizen und Nüssen lieber Farben und Licht sammelt für den Winter. Wir haben es einst den Kindern vorgelesen. Eine schöne Erinnerung.

Und dann, endlich, erlöst. Die Marathon-Sitzung ist vorbei, selbst die Ärztin atmet auf. Und draußen kommt einem sogar der Giesinger Bahnhofplatz vor wie das schönste Urlaubsparadies.

© SZ vom 30.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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