Mitten in der Altstadt:Die Choreografie des Bohrers

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Fühlt sich die Antilope so, wenn der Löwe ihr die Zähne in die Gurgel schlägt? Man liegt, dem Zahnarzt hilflos ausgeliefert, auf dem Behandlungsstuhl. Und oben an der Decke läuft eine Natur-Dokumentation - zum Glück ohne Löwen, nur mit Eidechsen, die nach Fliegen schnappen

Von Stefan Mühleisen

Auweia, ein Sandsturm. In der Ferne kräuseln sich die Dünen, kein Zweifel: Da rollt was an. Kann ein Bild passender sein, wenn man gerade auf einem Zahnarztstuhl in einer Praxis in der Altstadt liegt und an die Decke starrt? Wer könnte, würde sich jetzt aus dem Staub machen. Doch es bleibt nur das Starren an die Decke, wo auf einem Flachbildschirm der Sandsturm bald das gesamte Blickfeld ausfüllt. Eine These wirbelt herbei: Diese Szene ist kein Zufall; der neueste Dreh der Zahnärzte ist es, ihre Behandlung am Spannungsbogen von Natur-Dokus auszurichten.

Es geht offenbar darum, den Patienten die ausgefeilte Choreografie der Dental-Kunst vor Augen zu führen: Brücke mit narrativem Brückenschlag sozusagen. Der Sandsturm ist dabei wohl das Symbol für das Gefühl des Ausgeliefertseins. Für einen anregenden Diskurs mit Doktor H. ist es leider zu spät, da der Mund voll ist mit einem großtuerisch gurgelndem Sauger und einem blasiert sirrenden Bohrer. Auf dem Bildschirm gleitet die Kamera jetzt gottgleich über eine pittoreske Gebirgslandschaft. Kurzer Blick in die konzentrierten Augen von Doktor H., der seinerseits abgehoben über den Gefilden des Gebisses schwebt. Seine gutmütige Stimme sagt: "Das könnte jetzt ein bisschen zwicken."

Oben an der Decke nehmen zwei Lamas mit spitzen Ohren die Witterung auf. Schnitt. Zwei Luchse schleichen heran, und mit ihnen ein Gedanke: Man hätte wohl besser auf seinen Instinkt gehört und die Betäubungsspritze nicht abgelehnt. Dann zwickt es. Nicht im Film, sondern in echt, am Zahn. Während der Schmerz nachlässt, geht es um Eidechsen, ein ganzes Rudel. Die hüpfen herum, schnappen nach Insekten, das hast du noch nicht gesehen. Man selbst muss es bei geistigen Hopsern belassen. Ganz klar, das Drama muss zu Ende sein. Was sich diese Zahnärzte doch für schräge Metaphern einfallen lassen. Das ist die Party nach überstandenem Abenteuer! Das Böse ist besiegt, alles tanzt und schnappt nach dem Buffet. Schluss. Abspann. Ab nach Hause.

Plötzlich ist der Bildschirm schwarz. "Das könnte jetzt wieder ein bisschen zwicken", sagt die Stimme. Autsch.

© SZ vom 24.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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