Mitten im Gasteig:Ein Atlas für alle Fälle

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Wer in einer Großstadt lebt, schafft sich im Laufe der Jahre seine eigenen Stadtpläne. Auf manchen stecken viele Fähnchen

Von Jutta Czeguhn

Wer in einer Großstadt lebt, schafft sich im Laufe der Jahre seine eigenen Stadtpläne. Da gibt es jenen München-Atlas mit den Lieblingsmuseen, die man immer wieder besucht, weil es der Seele gut tut. Christian Schads "Operation" im Lenbachhaus oder den "Barberinischen Faun" in der Glyptothek, ihnen muss man halt regelmäßig mal Hallo sagen. Zur Selbstvergewisserung, dass sie und man selbst, also alle, noch da sind. Unverrückbar das persönliche Verzeichnis mit Gotteshäusern: Zumeist sind es Hinein-Spring-Kirchen, ein paar dieser echten, dünnen Opferkerzen angezündet, und, zack, wieder raus. Kontemplation gibt's eher in der Natur als zwischen Marmorsäulen und Holzbänken. Wichtig ist deshalb auch der Sonntagsspaziergang-Atlas, ausgetretene Pfade mit ein paar Bäumen, die man hat groß werden sehen. Unverzichtbar, aber immer unvollständig: der Wo-kann-man-noch-einen-guten-Kaffee-trinken-Atlas, auf ihn lassen sich in München leider nicht sehr viele Fähnchen pinnen.

Dass er in ein neues Lebensalter eingetreten ist, bemerkt der Mensch, wenn er sich einen Umsonst-Toiletten-Atlas für das Stadtgebiet bastelt. Ein Fähnchen als verlässliche Anlaufstelle bekommt auf der Stadtkarte ein Kaufhaus am Marienplatz. In der Uni-Gegend zieht es einen aus Nostalgiegründen in den Flachbau der Literaturwissenschaftler an der Schellingstraße, wo sich die Klos seit den Studientagen im letzten Jahrtausend nicht verändert haben. An den Türen hängen immer noch die gleichen Abreißzettel und Sponti-Sprüche. Gepflegter und nahezu immer geöffnet, die Sanitärräume im Gasteig. Doch nun ist dort etwas aus der Ordnung geraten: Auf die Innenseite einer Klokabine hat jemand Werbung für einen Oktoberfest-Roman geklebt. Es geht um Bierzelt-Bedienungen, das unverwechselbare Klacken der Masskrüge, Tragödien. Damit wandert der Gasteig leider auf den Negativ-Atlas "Welche-Plätze-meide-ich-zur-Wiesn-Zeit". Und der hat viele, viele Fähnchen.

© SZ vom 21.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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