SZ-Serie: Bühne? Frei!:Die mit dem Herzen denken

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Leslie Mandoki, 1953 in Budapest geboren, floh 1975 nach Deutschland. Der Musikproduzent und Schlagzeuger arbeitete für viele Firmen und produzierte CDU-Wahlkampfsongs. (Foto: Claus Schunk)

Kultur-Lockdown, Tag 3: Der Musikproduzent fürchtet Stille im Land der Dichter und Denker

Gastbeitrag von Leslie Mandoki

Die wirtschaftliche Leistung der Kulturbranche wird in dieser Krise bisher übersehen. Zudem wird nicht wertgeschätzt, dass wir es dabei mit besonders flexiblen und belastbaren Arbeitskräften zu tun haben. Durch Betriebsräte oder mächtige Gewerkschaften werden sie nicht geschützt. Jedenfalls diejenigen nicht, die in der nicht vom Staat subventionierten Kultur tätig sind. Sie sind gewohnt, sich um sich selbst zu kümmern. Doch das faktische Berufsverbot seit Beginn der Coronakrise wirft diese Szene ungebremst in einen Abgrund. Ich sorge mich nicht um uns etablierte Künstler, sondern um die Existenz der jungen und innovativen, die auf die kleineren Bühnen und Festivals angewiesen sind, um all die Techniker, Veranstalter, Caterer, Bühnenbauer, die es uns Künstlern ermöglichen, auf der Bühne zu stehen.

Es wäre eine Katastrophe für die Seele unseres Landes, wenn die Fülle und Vielfalt unserer Kultur ausgedünnt würde. Denn die Kunst denkt mit dem Herzen. Sie beschäftigt sich mit überbrachten Werten und schafft zugleich neue Visionen. Vor allem bildet sie eine Schnittstelle der Kommunikation zwischen unterschiedlichsten Gruppierungen unserer Gesellschaft und bildet den Diskurs in ihr ab. Eine aktive Kunst- und Kulturszene ist eine wirkungsvolle Prophylaxe gegen die Proliferation radikalen Gedankenguts in der Mitte der Gesellschaft. In unserer gespaltenen Gesellschaft möchte ich mit meinen Songs das Gemeinsame und Verbindende in den Vordergrund stellen. Mit unserem Song "Wake up" rufe ich zusammen mit Till Brönner auf, Achtsamkeit statt Ignoranz und Gier zu unserer Prämisse zu machen. Ich verstehe, dass die politischen Entscheidungsträger die Gesundheit der Bevölkerung und das Gesundheitssystem schützen wollen und in großer Sorge bezüglich eines Kontrollverlustes sind. Jedoch macht sich ein diffuses Gefühl in mir breit, dass sich die Zeichen von Kontrollverlusten häufen, die sich der Staat in den vergangenen Jahren bereits geleistet hat.

Der Hauptstadtflughafen wird mit neun Jahren Verspätung und mehr als dreifachen Kosten eröffnet. In Dresden konnten Mörder ihre Straftaten ankündigen und wurden trotzdem nicht abgeschoben. Bei den NSU-Morden wurden die Täter in den Opfer-Familien gesucht. Synagogen werden angegriffen, schändlicher Antisemitismus ist wieder ein Thema in Deutschland. Die vor zwölf Jahren mit der Lehman-Brothers-Pleite eingeläutete Finanzkrise wurde keineswegs gelöst, und die Gier des Finanzkapitalismus tobt wie eh und je, während die für uns alle so wichtige EU vor unseren Augen zerfällt. Ein Staat, der so oft die Kontrolle verliert, büßt Glaubwürdigkeit und natürliche Autorität ein, die gerade jetzt bei der Bekämpfung der Pandemie seine stärkste Währung sind.

Die Pandemie mit ihren Belastungen vertieft bereits existierende Spaltungen, und sie schlägt neue, tiefe Wunden in weiten Teilen der Bevölkerung. Wie also halten wir die Enden der Gesellschaft zusammen? Wer richtet die Menschen wieder auf, wenn sie eines Tages aus der Covid-19-Nacht gelangen? Wer zündet das Licht am Ende des Tunnels wieder an? Was, wenn wir nach überstandener Pandemie wieder hinaus dürfen, diese Szene aber einfach weg ist? Die monochrome Stille im Land der Dichter und Denker, die uns dann erwartet, wird unerträglich sein.

© SZ vom 04.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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