Lebendige Geschichte:Schreck im Glockenturm

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Die Hartmannshofer Siedler erinnern sich bei einem Theaterspaziergang an Anekdoten aus 100 Jahren

Von Anita Naujokat, Hartmannshofen

In zwei großen Töpfen hat man sie puffen lassen. In der Laube neben den Schrebergärten, die der findige Geschäftsmann Ernst Semm von 1938 an immer mehr zur Popcorn-Fabrik ausweitete. Das salzige Popcorn fand als Füllmaterial bei der Verpackung von empfindlicher Ware Verwendung, mit dem süßen belieferte Semm Stände auf der Auer Dult und hatte sogar einen eigenen auf der Wiesn. Liebevoll zu seinen Gartenzwergen, war er zu den Angestellten eher bärbeißig. Und die Nachbarn blickten neidvoll zu ihm auf, hatte er doch den ersten Fernseher in der Siedlung. So erzählt es Eva Humpmair an der Hartmannshofer Straße 5, wo einst Semms Gartenhaus stand, während ihre Helferin rote Tütchen mit Popcorn ans Publikum verteilt.

In elf Szenen zieht der Theaterspaziergang "Auf Spurensuche durch 100 Jahre Hartmannshofen" unter der Regie von Dorothea Streng und gespeist aus Erinnerungen der dortigen Bewohner in die Vergangenheit, wie es kaum eine noch so gute Chronik vermag. Da erzählt Erwin Wagner seinem Großneffen Jonas, wie in seiner Jugend der Lokführer mal schnell aus dem Zug gesprungen ist, um sich im Kolonialladen der Reichlmayrs mit Brotzeit einzudecken. Das Stangeneis für den Eisschrank kam von der Inselmühle. Und dann durfte der kleine Erwin auch mal ein paar Meter die Lok fahren, aber nur bis vor die Schranke an der Allacher Straße, denn der Weichensteller durfte ihn nicht sehen. Ja, und dann war da noch diese Bunkergeschichte im Krieg. Bei Fliegeralarm habe jeder nur das Nötigste mitgenommen. Nur die Frau Neubert begnügte sich damit nicht, also packte man mal heimlich in ihren Rucksack Ziegelsteine . . .

Natürlich reicht die Geschichte Hartmannshofens viel weiter zurück. In den aktuellen Moosacher Geschichtsblättern, die auch zwei Beiträge zur Historie Hartmannshofens enthalten, bezeichnet der Historiker Volker D. Laturell sie als "drei Leben" - als Zeit der Weiler (9. bis 17. Jahrhundert), der landesherrlichen Fasanerie (1717 bis 1914) und der Siedlung (1914 bis heute). An der Siedlungsepoche knüpft der Theaterspaziergang an der einstigen Fasanerie, der heutigen gleichnamigen Gaststätte, an.

Theaterspaziergang in die Vergangenheit: Einmal Lokführer spielen, das war in der Jugend von Erwin Wagner (rechts) sehr zur Freude seines Großneffen Jonas in Hartmannshofen noch möglich. (Foto: Florian Peljak)

Man schreibt den 6. Juli 1919. Manfred Just und Gerhard Wimmer machen das Publikum zum Zeugen der Gründungsversammlung einer Baugenossenschaft in Hartmannshofen auf Grundlage des noch jungen Erbbaurechts. Mit der Revolution 1918/19 und dem Ende der Monarchie war der Besitz der Wittelsbacher an die Krongutsverwaltung übergegangen. Laut Laturell konnten nur so große Flächen wie die 81 Hektar Grund aus dem ehemaligen Jagdgebiet um die Fasanerie in Ober- und Untermenzing sowie in Moosach zur Erstellung von Kleinhäusern vergeben werden - insgesamt 500 Erbbaurechte. Von kleinen Häusern in großen, heute parkähnlichen Gärten, welche die Bewohner nicht mehr für die Eigenversorgung benötigen, ist die Siedlung noch heute geprägt.

Tochter Ingrid Suchner lässt sich von Mutter Liselotte Herlinger erzählen, wie das damals so war in deren Jugend, als weder Tram noch Bus fuhren und der Bahnhof Moosach nur in 20 Minuten Fußmarsch erreichbar war. Und dann wäre da noch das einstige Milchhäusl, die Kommunikationszentrale mit dem einzigen Fernsprechapparat weit und breit, die Limonade- und Tafelwasser-Fabrikationsanlage, von deren Anfängen noch der windschiefe Schuppen an der Hartmannshofer Straße 6 zeugt. "Das war ein Mordsgeschäft dort, bis die Brauereien gekommen sind", erzählt Hans Hackl aus dem Publikum. Als kleiner Bub habe er den Eltern noch bei der Auslieferung geholfen.

Und nicht zuletzt ist da noch der "Frauenturm-Baum". "Der Frauen-was?", schallt es aus dem auf mittlerweile etwa 80 Zuschauer angewachsenen Tross, in ihm auch Kinder und Jugendliche. Nein, keine botanische Rarität im Hartmannshofer Park, wie Elisabeth Brummer erklärt. Vielmehr seien auf den Baum immer die Buben, allen voran die Ministranten, gekraxelt, um die Frauentürme zu sehen. Die Lauser hatten es auch geschafft, den Blitzableiter der Raphaelskirche außer Funktion zu setzen, und einem Maler im Glockenturm den Schreck seines Lebens zu versetzen. Nur für den herabgestürzten Glockenklöppel konnten sie nichts.

Sprudel ausbunten Bechern kredenzen die Darsteller am ersten Standort der früheren Limonadenfabrik. (Foto: Florian Peljak)

Hundert Jahre Hartmannshofen, das sind viele Geschichten. Doch wie sieht es mit der Zukunft aus? War in jüngster Zeit doch viel von Leerstand und Grundstücksverkäufen die Rede. Auch darüber gibt der Theaterspaziergang Auskunft. Die Siedlervereinigung Hartmannshofen hatte sich mit anderen Siedlervereinen zusammengetan und mit anwaltlicher Hilfe erreicht, dass die ausgelaufenen Erbpachtverträge je nach Wahl bis 2030 oder 2056 verlängert werden können. Danach fallen sie an den Freistaat zurück und können von diesem veräußert werden, ebenso wie Grundstücke, die während der Laufzeit keinen direkten Erben für den Vertrag haben.

Zu erleben ist der Theaterspaziergang noch einmal diesen Sonntag, 30. Juni. Treffpunkt: 15 Uhr vor der Gaststätte Fasanerie, Hartmannshofer Straße 20. Bei schlechter Wettervorhersage gibt es einen Ersatztermin. Anmeldung erbeten unter Telefon 141 86 32 oder per E-Mail an wimmerei@web.de. Die Teilnahme ist kostenlos. Die 100-Jahr-Feier findet am 6. Juli in geschlossener Gesellschaft statt. Außerdem gibt die Siedlervereinigung Hartmannshofen für ihre Mitglieder eine 180-seitige Chronik heraus.

© SZ vom 29.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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