Leben nach dem Fußball - SZ-Serie "Wie ausgewechselt":Der Malocher

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Maximaler Einsatz bei maximalem Understatement. So kennt man Joachim Goldstein, auch aus seiner Zeit beim TSV 1860 München. Er war Grätscher und Kämpfer. Aber wohlgemerkt kein Metzger, wie man beim Fußball die brutalen Spieler nennt - heute hat er sein Glück beim Wurstmachen gefunden

Von Stefan Mayr

Der Wecker klingelt um 5 Uhr morgens. Montag bis Samstag. Sechsmal die Woche. Um halb sechs steht Joachim Goldstein dann in der Küche. Wurst machen. Heute werden 15 Schweinehälften in seine Metzgerei im Augsburger Stadtteil Kriegshaber geliefert. Der 52-Jährige schlüpft in seine silberfarbenen Schutzhandschuhe, nimmt das unterarm-lange Messer und beginnt, das Fleisch zu zerlegen. In dem gefliesten Raum riecht es nach Kühlschrank. Goldstein trägt weiße Gummistiefel, weiße Hose, weiße Schürze, weiße Schildmütze. In seinem früheren Beruf trug er vor allem Blau und hatte den Duft von Rasen in der Nase: Neun Jahre lang kickte Goldstein im Trikot des TSV 1860 München. Seine Arbeitsstätte war das Grünwalder Stadion, in der Zweiten Bundesliga und in der Bayernliga. Goldstein war Mannschaftskapitän und hätte es auch zum Stammspieler in der Ersten Bundesliga schaffen können. Doch Pech und sein Vater sorgten dafür, dass aus dem Augsburger Jungtalent kein Fußballmeister wurde, sondern ein Metzgermeister.

Schnitzel, Rohschinken und Zwiebelmettwurst statt Abseits, Schusstraining und ballorientierter Raumdeckung. Das ist heute die Welt des Joachim Goldstein. Ist er zufrieden? Er rückt seine Mütze zurecht, wischt sich den Schweiß von der Stirn und lächelt. "Da fällt mir eine Geschichte ein", sagt er. "Einmal war ich mit dem Roland Kneißl im Entmüdungsbecken gesessen", erzählt er. Der junge Teamkollege aus Ampfing, der später zur Klublegende wurde, fragte den Augsburger, was ihm besser gefällt; Fußballer oder Metzger? "Und ich habe ihm gesagt, dass mir Metzger fast noch ein bissl mehr Spaß macht." Kneißl zeigte sich "leicht verwundert", berichtet Goldstein.

Aber wer den ehemaligen Defensiv-Spezialisten kennt, muss ihm das abnehmen. "Vom Einkauf des Tieres bis zum Endprodukt bin ich bei allen Prozessen aktiv dabei", doziert er, "am Ende sieht man ein Ergebnis, und wenn der Kunde wieder kommt, weil es ihm geschmeckt hat, dann ist das wie Applaus im Stadion." Er lächelt, stutzt kurz und sagt: "Einen Ball hatte ich schon sieben Jahre lang nicht mehr zwischen den Füßen."

Dennoch schaut er mit seinen 52 Jahren schlanker und ranker aus denn je. Er hat kein Gramm Fett zu viel auf der Rippe. Wie er das macht? Er treibt täglich Sport. Extrem-Sport.

Aber dazu später mehr. Jetzt muss er erst einmal die Geflügel-Lyoner fertig machen. Die blassrosa Masse quillt aus der silberfarbenen Füllmaschine, Goldstein lässt sie in die orangene Hülle fließen. Den ganzen Vormittag wuselt er zwischen Wasserbottich, Kühlraum und Kutter herum. Dann eine kleine Brotzeit, Umziehen und ab in die Filiale im Vorort Stadtbergen. Dort stellt er sich hinter die Theke zum Verkauf. "Die Leute wollen den Chef sehen", sagt Goldstein und schmunzelt.

Er trägt jetzt ein blitzsauberes weißes Hemd, eine rot-weiß gestreifte Weste und eine rote Fliege. In diesem Outfit ist er auch auf den Lieferwagen abgebildet - in Lebensgröße, mit der einen Hand hält er eine Wurstplatte, in der anderen eine Hantel. "Man muss personalisieren, um sich abzuheben", sagt er. Aus dem rustikalen Handwerks-Betrieb des Vaters hat er im Lauf der Jahre ein breit aufgestelltes Unternehmen gemacht. 25 Mitarbeiter - von einem weiteren Metzgermeister bis zur 400-Euro-Kraft, zwei Filialen. Seine Ehefrau Elke macht den Party-Service. Früher machte die Metzgerei nur Wurstplatten zum Abholen. Jetzt nennen sich die Goldsteins "Wellness-Metzgerei" und bieten den Catering-Komplettservice. "Inklusive Lachs auf Gemüsebett", sagt Goldstein. Und Tiramisu, Geschirr und Tischdecken, mit Bringen und Holen und allem Drum und Dran. Die alte Metzgerei-Filiale würde sich alleine gar nicht mehr rentieren, sagt er, wenn dort der Party-Service nicht mitlaufen würde. Sie beliefern Hochzeiten, Firmen-Events, private Partys.

50 bis 80 Stunden arbeitet Joachim Goldstein in seiner Metzgerei. Heute dreht sich bei ihm alles um die Wurst. (Foto: Stefan Puchner)

"Grüß Gott, Frau Möhler, wie geht's", ruft er zwischendurch. Er kennt seine Stammkunden noch beim Namen. Doch sie werden immer weniger, berichtet er. Und die jungen Leute kaufen ihre Wurst im Supermarkt. "Es ist ein harter Kampf ums Geschäft", berichtet er, "man muss sich immer wieder was Neues einfallen lassen." Zum 100. Geburtstag des Augsburger Dichters Bertolt Brecht brachte er 1998 eine "Brechtwurst" auf den Markt, nach einem Rezept aus dem Jahr 1896. "Die läuft bis heute", sagt er stolz, "aber wir dürfen inzwischen nur noch brechtige Wurst sagen." Die Erben des großen Meisters waren dazwischen gegrätscht. Urheberrecht. "Wir haben denen dann einen Korb Wurst geschickt, seitdem passt's."

50 bis 80 Stunden pro Woche muss Goldstein arbeiten. Ehefrau Elke kommt auf bis zu 60 Stunden. Heute steht er bis 15 Uhr im Verkauf, danach macht er die Bestellungen für den nächsten Tag. Um 17 Uhr ist Feierabend. "Dann mach ich meistens a bissle Sport", schwäbelt er. A bissle ist gut. Goldstein ist Extremsportler. "Ich hab' da ein paar verrückte Freunde." Mit ihnen fährt er durch die Weltgeschichte und nimmt an krassen Ausdauer-Events teil. Zum Beispiel dem "Men's Health Camp". Sieben Tage Maloche, fünfmal pro Tag eine Stunde Work-Out. "Es gab nur einen einzigen freien Tag", sagt er, "und da haben wir Fußball gespielt."

Voriges Jahr lief er beim "KrassFit-Challenge" im Kühtai (Tirol) mit. Der höchste Hindernislauf der Welt auf 2000 Metern Höhe, 16 Kilometer mit 30 Naturhindernissen und 800 Höhenmetern. Durch den Schlamm. Olympia-Zehnkämpfer Frank Busemann war auch dabei. Goldstein könnte in der Traditionself des FCA oder des TSV 1860 mitkicken, aber das ist ihm offenbar zu läppisch. Wenn Goldstein Sport treibt, dann geht er ans Limit. Wie früher als Löwen-Kapitän: In jedem Zweikampf, egal ob Spiel oder Training.

Wenn Joachim Goldstein Wintersport macht, dann wedelt er nicht die Pisten hinunter oder fährt Langlauf. Nein, er quält sich beim "Streif Vertical Up" mit Helm und Steigeisen die legendäre Kitzbühler Weltcup-Abfahrt nach oben. Um die Wette. Nach einer Stunde und 15 Minuten war er im Ziel. Als Erster seiner Altersklasse. "Über 50 Jahre waren ja nicht so viele dabei", sagt er bescheiden.

Das ist typisch Joachim Goldstein. Nie würde er sich in den Vordergrund drängen. Maximaler Einsatz bei maximalem Understatement. Das war schon immer so, auch bei den Sechzgern. Der "Jockl", wie sie ihn nannten, das war der Malocher, die mannschaftsdienliche Arbeitsbiene. Der Grätscher und Renner, der nach dem Spiel immer der Dreckigste war. Der weder sich noch seine Gegenspieler schonte. Aber wohlgemerkt war er kein Metzger, wie man beim Fußball die Brutalos nennt, die ohne Rücksicht auf Verluste ihre Gegenspieler weichklopfen. Goldstein spielte immer fair. Fast schon wie ein Gentleman mit Fliege.

Mit dieser Einstellung hat er es schon mit 23 zum Kapitän geschafft. Damals griff er übrigens entscheidend in die Klubgeschichte ein, wie er heute verrät: So wollte Präsident Karl Heckl den jungen Kneißl wieder verkaufen. "Da hab' ich ihm gesagt, nein, der kann noch wichtig werden." Daraufhin habe Heckl Kneißl im Kader gelassen. Und im nächsten Jahr sei Kneißl groß eingeschlagen. Später nannten ihn alle "Magic" und er führte die Löwen zurück in die Zweite Liga. Weniger begeistert war Goldstein übrigens von Rudi Völler, mit dem er in seinem ersten Jahr bei 1860 zusammenspielte. Über den späteren Weltmeister und DFB-Teamchef sagt er heute: "Der war ein Riesentalent und sauschnell, aber stinkfaul."

Fußballerisch hätte auch Goldstein das Zeug zum Bundesliga-Stammspieler gehabt, aber Pech und Fehlentscheidungen verhinderten den Sprung nach ganz oben. Mit der B-Jugend des FC Augsburg wurde er Deutscher Vizemeister. Kurz danach warb der FC Bayern München seine Teamkollegen Raimond Aumann und Roland Grahammer ab. Goldstein hatte auch ein Angebot. Aber er blieb.

1981 wurde er mit der Junioren-Nationalmannschaft Europameister. Das Finale in Düsseldorf sahen 56 000 Zuschauer, mit im Team waren spätere Stars wie Vollborn, Zorc, Falkenmayer, Wohlfahrt oder Waas. Später, als A-Jugend-Spieler, kickte er bereits in der dritten Liga für das Männerteam des FC Augsburg. Danach unterschrieb er beim TSV 1860 München seinen ersten Profivertrag. Dieser galt für die erste und zweite Bundesliga.

Aber Goldsteins Pech war: Unmittelbar vor seinem Wechsel stiegen die Löwen in die zweite Liga ab. Goldstein geriet mitten hinein in die große Sechzger-Krise: In seinem ersten Jahr hatte der 19-jährige Bursche zwar 21 Einsätze. In sportlicher Hinsicht verpasste das Team in der Saison 81/82 den Wiederaufstieg in die Bundesliga nur um einen Punkt. Doch finanziell brach alles zusammen: Lizenzentzug, Zwangsabstieg in die Bayernliga. Völler und Sidka verabschiedeten sich zu Werder Bremen in die Bundesliga und machten Karriere als Nationalspieler. Goldstein hatte ein Angebot des 1. FC Köln. Aber er blieb den Löwen treu. Seinem Vater zuliebe. "Er wollte nicht, dass ich nach Köln gehe", sagt Goldstein. Also blieb er in der Heimat - und arbeitete im Betrieb weiter. "Wenn der Vater nicht gewesen wäre, hätte ich es probiert", erzählt er. "Ich weiß nicht, was dann gewesen wäre. Vielleicht hätte ich mehr beharren müssen." Er überlegt kurz, dann sagt er: "Aber ich dachte ja, wir steigen gleich wieder auf."

Auch in den Bayernliga-Jahren mit Profi-Vertrag - offiziell firmierte er als "Vertrags-Amateur"- half Goldstein in der Metzgerei des Vaters mit: Aufstehen um 5 Uhr, Wurst machen, Ausliefern an die Filiale. Danach fuhr er nach München ins Training. Es kam kein Bundesliga-Angebot mehr. "Wenn du zusätzlich arbeitest, dann fehlen dir die entscheidenden zehn Prozent", sagt Goldstein. Auch aus dem baldigen Wiederaufstieg wurde nichts. 1989 machte er den Metzgermeister, 1991 kehrte er zurück nach Augsburg zum FCA. 1994 übernahm er als 32-Jähriger die Metzgerei, sein Vater hatte einen Schlaganfall erlitten. Das war das Ende des Profi-Fußballers Goldstein, und der Anfang des Geschäftsmanns Goldstein.

2007 investierte er viel Geld, um eine neue Filiale aus dem Boden zu stampfen. Plus Bistro mit 60 Sitzplätzen. Das Projekt kostete eine sechsstellige Summe. "Jetzt muss ich noch ein paar Jahre lang was tun", sagt Goldstein und lacht. Ob er noch weitere Expansionspläne hat? "Naaa", ruft er, "für wen?" Sein Vater starb 2008, "der hat nur die Arbeit gekannt". Das will sich Joachim Goldstein nicht antun. Lieber bereitet er sich auf sein nächstes Sportevent vor. Im März fährt er mit seinen Kumpels nach St. Peter-Ording. "Vier Tage Cross-Trainingslager, mit Reifenschleppen und viel Natur, das wird genial." Trotz sechsmal wöchentlich um 5 Uhr aufstehen, trotz 80-Stunden-Woche - Joachim Goldstein ist kein Typ, der im Urlaub faul im Liegestuhl herumliegt. "A bissle was muss i immer machen", sagt er. "Ohne Sport geht's nicht."

© SZ vom 19.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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