Wildwuchs, Wiese, Wunder:Urwald im Boom-Land

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So teuer wie in Grünwald sind Grundstücke nur selten. Und doch gibt es hier mitten im Ort ein Stück unberührter Natur: den Perlacher Hang

Von Claudia Wessel, Grünwald

Eine Wiese darf wachsen. Brennesseln dürfen stehen bleiben. Und die Bäume in dem kleinen Waldstück dürfen skurrile Astkunstwerke bilden, mit Moos zuwuchern, kreuz und quer über den engen Pfaden liegen oder sie als Torbogen überspannen. Sie dürfen als geheimnisvolle Baumgeister unzählige Arme ausstrecken, sie dürfen bleiben, auch wenn ihr dicker Stamm längst in einem 45-Grad-Winkel über dem Boden schwebt, nur gehalten von verzweigten Wurzeln auf der anderen Seite. Es darf aussehen wie in einem seit Jahrhunderten verwunschenen Zauberwald. Und das alles mitten in Grünwald.

Bäume können in dem geschützten Bereich ungehindert wachsen; der Vegetation wird im früheren Bett der Isar freier Lauf gelassen. (Foto: Angelika Bardehle)

"Das ist ein Wunder", sagt Manfred Siering, 70, stellvertretender Vorsitzender der Bund Naturschutz Kreisgruppe München und seit 67 Jahren Grünwalder, bei einem Rundgang über den "Perlacher Hang", der westlich der Perlacher Straße liegt, also wenige Minuten zu Fuß vom Ortszentrum. "Wo hier in Grünwald ein Quadratmeter Grund in Bestlage 2600 Euro kostet. Stand 2016, da habe ich das bei Bekannten mitgekriegt." Das Wunder ist 3,26 Hektar groß, rund 900 Meter lang, aber nur 50 Meter breit, und wäre als Ergänzung bestehender Grundstücke ein Schmankerl für so manchen Investor, aber auch für Anlieger. "Die Häuser nordwestlich", sagt Siering, "da gibt's Begehrlichkeiten." Immer wieder hätten Hausbesitzer bei der Gemeinde angefragt, ob sie nicht ein Stück von dem Land kaufen könnten, um ihren Garten zu erweitern. "Doch da sagen sowohl die Gemeinde, als auch das Landratsamt Nein." Es ginge auch gar nicht mehr, denn seit 1982 ist der Hang ein Naturdenkmal und steht unter Schutz.

So kann man heute noch dort am Rande der bunten Wiese stehen, auf der Siering an diesem Nachmittag Johanniskraut entdeckt, "in der heutigen Landschaft eine Seltenheit, früher gab es das an jedem Wegrand." Wenige Schritte weiter ruft er: "Ich sehe Klappertopf. Das ist eine Pflanze, die zeigt, dass eine Wiese höherwertig ist." Auch viele weitere Pflanzen lassen das Herz des Naturschützers höher schlagen, obwohl sie weniger selten sind, aber doch die Artenvielfalt auf diesem Stück Erde bezeugen: echte Nelkenwurz, Labkraut, Habichtskraut, Bunte Kronwicke, Zaunwinde, Hornklee. Und da wieder eine Seltenheit: Kiel-Lauch.

Manfred Siering vom Bund Naturschutz spricht von einer "Lobby an Radfahrern". (Foto: Angelika Bardehle)

Wenn Siering nicht gerade eine neue Pflanze oder in dem Waldstückchen einen ungewöhnlichen Baum oder Strauch, etwa eine Eibe oder ein Pfaffenhütchen, entdeckt, wenn er nicht begeistert auf die Spechtlöcher im Totholz zeigt oder auf den gerade ablaufenden Kampf einer Ameise mit einer Spinne und sich freut: "Hier ist Leben!", wenn er also nicht gerade in den Bann einer erfreulichen Entdeckung gezogen wird, dann erzählt er, wie es hier vor 8000 Jahren aussah, in der jüngsten Eiszeit: "Das hier ist die alte Schotterterrasse am Isarufer, wo früher die Rentiere, die in der Tundra gelebt haben, zum Trinken herkamen. Oder die Moschusochsen." Die Isar dehnte sich seinerzeit vermutlich von ihrem heutigen Bett bis hierher zu diesem Hang, möglicherweise auch in mehreren Armen. Nach der Eiszeit kam die Warmzeit. Die Kelten siedelten in dieser Gegend, weshalb Manfred Siering auch glaubt, dass unter dieser Erde am Perlacher Hang auch Keltengräber liegen könnten.

Bäume und Pflanzen lassen das Herz des Naturschützers Siering höher schlagen. (Foto: Angelika Bardehle)

Es geht weiter auf den kleinen Trampelpfaden, und Siering fasst mal hier, mal da ein Blatt eines Baumes, sagt: "Ein Spitzahorn!", "hier sogar ein Bergahorn!", "Traubenkirschen!" Auch das Alter der großen Bäume schätzt er: "Diese Hainbuche ist sicher 120 Jahre alt. Diese Eiche etwa 200. Die Eiche, die wir vorhin gesehen haben, muss etwa 300 sein." Eine kleine Andachtssekunde entsteht angesichts dieser Lebensdauer. Dann sagt Siering: "Und das mitten in einer dynamischen Gemeinde wie Grünwald, in der Luxusvillen nach 15 Jahren abgerissen werden, damit neue Luxusvillen gebaut werden können." Mit Gärten, in denen es "kein Leben" gibt, so Siering, "nur Buchsbäume und Rollrasen. künstlicher Boden wird Lastwagenweise angefahren. Und wenn eine Hortensie verblüht ist, kommt der Gärtner und pflanzt eine neue ein." Ein Szenario, das er schauerlich findet, daran lässt der Naturschützer keinen Zweifel. Und deshalb ist für ihn die Existenz des Perlacher Hangs umso erfreulicher, nicht nur weil der 70-Jährige hier auch schon als Kind gespielt hat, und im Winter Schlitten gefahren ist.

Die Wiese darf wachsen. Aber zweimal im Jahr wird sie gemäht und das Mähgut weggebracht, um sie auszumagern. "Die Wiese ist einer unerwünschten Düngung ausgesetzt", erklärt Siering. "Pro Jahr und pro Hektar fallen 60 Kilogramm Feinstaub aus Umweltverschmutzung auf unsere Köpfe." Für die Wiese bedeutet dies eine Bedrohung der Artenvielfalt. "Es ist ein ständiger Kampf", erzählt der Naturschützer. Doch Johanniskraut und Klappertopf zeigen ja schon erste Erfolge. Allzu hoch soll das Gras übrigens gar nicht wachsen, damit Licht auf den Boden kommt. "Ödland ist Mangelware geworden", sagt Siering. Doch brauchen etwa Laufkäfer und Eidechsen genau das. Unantastbares Ödland im Paradies der Investoren - für den Naturschützer ist das eine Freude.

In der nächsten Folge am Montag geht es um die Jahrhunderte alte Stieleiche von Stangenried.

© SZ vom 05.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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