Visionen:Aus Schaden klug

Visionen: Will mit seinem Buch einem neuen Denken den Weg ebnen, das die Fehler und Katastrophen des alten Denkens zu vermeiden beansprucht: Rudolf Kreutzer an seinem Schreibtisch, im Hintergrund ein Bild von Albert Einstein.

Will mit seinem Buch einem neuen Denken den Weg ebnen, das die Fehler und Katastrophen des alten Denkens zu vermeiden beansprucht: Rudolf Kreutzer an seinem Schreibtisch, im Hintergrund ein Bild von Albert Einstein.

(Foto: Robert Haas)

Der Ismaninger Ingenieur und Risikoforscher Rudolf Kreutzer hat ein hochambitioniertes Buch geschrieben. Mit "Denken neu denken" will er die Menschen zukunftsfähiger und die Welt gerechter machen

Von Udo Watter, Ismaning

Dass Rudolf Kreutzer sich neben seinem naturwissenschaftlichen Beruf als Ingenieur auch das ein oder andere Abenteuer als Bergsteiger und Höhlenforscher gegönnt hat, passt gut: Der Ismaninger will hoch hinaus - und in die Tiefe gehen. Und er geht auch existenziell gern aufs Ganze. Sein aktueller Anspruch: einem neuen Denken den Weg ebnen. Einem neuen Denken, das die Denkfehler, Krisen und Katastrophen des alten Denkens verhindern kann, wie er es ausdrückt.

Rudolf Kreutzer ist vor kurzem 70 geworden, seit vielen Jahren lebt der gebürtige Mittelfranke in Ismaning, die berufliche Karriere hatte den Ingenieur, der Werkstoffwissenschaften an der Universität Erlangen-Nürnberg studiert hat, in den Raum München verschlagen: 1977 begann er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Allianz Zentrum für Technik GmbH, einem Tochterunternehmen der Allianz-Versicherung - ein Schadenforschungszentrum, das seinen Sitz in Ismaning hat. Sein Aufgabengebiet umfasste in rund 40 Berufsjahren Schadensursachen, Schadenverhütung, Risikomanagement, Zukunftstrends und Katastrophenschutz. Er untersuchte "Unfälle in Kernkraftwerken, Stromausfälle in Hochsicherheitsrechenzentren, das Klima in Vorstandsetagen von Großkonzernen, Überhitzung im Dampfkessel des größten Öltankers der Welt oder im Hexenkessel einer Hooligantribüne, Gedankenlosigkeit im Cockpit oder in einem Eisenbahnstellwerkhäuschen", wie er in seinem gerade erschienenen Buch "Denken neu denken - warum und wie wir unser Denken ändern müssen" schreibt.

Das 372 Seiten lange Sachbuch (erschienen im Hamburger Self-Publishing-Verlag Tredition) ist Extrakt und Quintessenz seines Berufslebens als Schaden- und Risikoforscher. Die Vielfalt an Erkenntnissen, die er daraus gewonnen hat, wollte er von der technisch-wissenschaftlichen Welt quasi hinauf auf eine geistige Meta-Ebene hieven, die letztlich auf einen utopischen Charakter hinausläuft. Sein Buch, an dem er rund drei Jahre lang gearbeitet hat, ist unter anderem ein Kampf wider das monokausale und dichotome (Schwarz-Weiß-)Denken. Es klagt Hybris und Versäumnis an, die Vielfalt an Fehlern und Prozessen zu erkennen, welche zu negativen Ereignissen führen. "Nichts, was passiert, passiert isoliert", sagt Kreutzer. Die Gründe, warum etwa große Unternehmen irgendwann kollabieren, lägen in "dauerhaften und beobachtbaren Zuständen". Viele Führungskräfte suchten Gründe für Erfolg nur internal, schreiben ihn also sich selbst zugute, für den Misserfolg hingegen werden oft externale Gründe als entscheidend gesehen: Naturkatastrophen, Terrorismus, Markt- oder Finanzkrisen. Die klassische externale Schuldverschiebung hat dabei ein antikes Vorbild: die Sündenbocksuche. Internale Risiken zu durchschauen, die sich vor allem auf menschliche Schwächen und Defizite beziehen, ist für Kreutzer ein wesentliches Element. Generell konstatiert er: "Unsere moderne Intelligenz ist so antik wie das Denken der alten Griechen und Römer." Schon allein, dass fast alle mit Denken verbundenen Begriffe wie logisch, rational, analytisch, strategisch, ethisch aufs Griechische zurückgehen, belegten das.

Kreutzer fragt, warum in der Technik unvorstellbare Utopien verwirklicht wurden, und warum dies nicht in der Politik und in der Religion gelungen sei. "Dort hadern die Menschen seit tausenden Jahren mit Kriegen, Katastrophen, Seuchen, Korruption, Folter, Hunger und Rassenhass." Er will Vorschläge machen, wie die Menschen mit neuem (Meta-)Denken eine Welt schaffen können, "die klassische Realisten derzeit für nicht möglich halten".

Ein hoher Anspruch. Kreutzer, in dessen Ismaninger Arbeitszimmer eine von ihm geschnitzte Holzskulptur steht, die dem berühmten "Denker" von Auguste Rodin nachempfunden ist, und ein Bild von Einstein hängt, treibt sicher keine Angst vor hochfliegenden Ideen um. Seine Ambitionen mündeten bereits vor einigen Jahren in die Gründung eines "Zentrums für systemisches Denken", ein Netzwerk aus rund 30 Menschen mit verschiedenen beruflichen und weltanschaulichen Hintergründen - das aber im wesentlichen von ihm getragen wird mit der Intention, auch Politik und Unternehmen zu beraten.

Nun hat er also dieses Buch geschrieben und darin definiert er genauer das "systemische Denken", das er nicht mit systematischem Denken verwechselt wissen will. Kurz gesagt geht es ihm dabei darum, "weitstirnig" (statt engstirnig) zu denken, fächerübergreifend, mit dem Ziel, das Wesentliche eines Systems zu erfassen, global, in Zusammenhängen und zukunftsorientiert, aber auch geduldig und freudvoll denken. Ihm schwebt vor, dass sich durch diesen etwas anderen Ansatz die menschliche Intelligenz generell weiter entwickeln könne und die Welt fairer würde.

Im ersten Teil des Buches stellt er dar, was die Menschen warum, wie, wann denken. Und welches Tun darauf folgt. "Das, was wir jetzt tun, bestimmt, welche Probleme wir in Zukunft haben werden. Das bestimmen nicht die Götter, nicht das Schicksal, Glück oder Pech und auch nicht der Zufall", so Kreutzer. Der zweite Teil besteht aus 20 Beispielen für neues Denken und aus Versuchen, dieses zu entwickeln.

Kreutzer reflektiert divers über Begriffe, versucht Kontexte zu integrieren, baut seine Schlüsse auf Forschungsergebnissen auf. Er legt Tabellen an, in denen er etwa die Vielfalt von Schadensursachen für bestimmte Ereignisse und Phänomene wie 9/11, die Klimakrise oder die Flüchtlingskrise darlegt und mit den eher monokausalen, öffentlich kolportierten Ursachen vergleicht. Das ist durchaus befeuernd zu lesen, auch seine Lust am Querdenken und Erfinden von Neologismen, die wiederum neues Denken anregen könnten, ist interessant. Dass Sprache lenkt und leitet, zeigt er auch daran, wie manche Manager ihre Eigenschaften verbal verbrämen: Aus Gier wird dann Ehrgeiz, aus Selbstüberschätzung Zielstrebigkeit, aus Betriebsblindheit Erfahrung. Auch Ideen wie die, dass in der Schule künftig das Unterrichtsfach "Zukunft" geben solle, machen neugierig.

Ob das Buch freilich das "kommende Standardwerk über Denkarten wird, das es in dieser Form noch nicht gibt" (wie es beworben wird), erscheint zumindest ambitioniert. Kreutzer hat viel zusammengetragen, oft ist es inspirierend, aber nicht alles ist neu, manche Schlüsse muten überzogen an und überzeugen nicht gänzlich. Er schreibt über "kognitive Verzerrungen", volkstümliche Logik, veraltete Muster, über angeborenes und erlerntes Denken, den kompetitiven Urgrund des antiken geistigen Ringens und vieles mehr. Er geht auf die Schwächen des "gesunden Menschenverstandes" ein, thematisiert KI und Digitalisierung. Interessant, dass er auch Schattenseiten der Demokratie beleuchtet und sich statt einer Gesellschaftsform, die auf "-kratie" (= Herrschaft) endet, eine Art "Geophilie" wünscht: die "Wertschätzung weltumspannender Zusammenhänge".

Kreutzer ist selbstbewusst und nicht frei von missionarischem Eifer. "Das systemische Denken könnte eine langfristige Revolution auslösen", erklärt er und hofft, dass Institutionen, Firmen, Politiker künftig entsprechenden Rat bei ihm suchen. Der ehemalige Felskletterer und Schadenforscher will hoch hinaus.

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