Verschollene Skulpturen:Byzantinische Wolpertinger

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Seit Jahrzehnten sind die Sphinx-Figuren verschwunden, die einst am Nordfriedhof-Portal standen und in einem Roman Thomas Manns erwähnt werden. Zwei Steinmetze aus Garching arbeiten an einer Replik

Von Stefan Mühleisen, Garching

Aschenbach hat zunächst das volkstümliche Treiben im Aumeister-Biergarten beobachtet, die Droschken registriert, die am Rande des Wirtsgartens hielten, um sich dann auf den Heimweg zu begeben. Von Norden her zieht ein Gewitter auf, also mit der Tram nach Hause. An der Haltestelle beim Nordfriedhof vertreibt sich der Wartende die Zeit, indem er sich in die reich ornamentierte Westfassade des Friedhofsbauwerks versenkt, und dabei auch zwei "apokalyptische Tiere" zur Kenntnis nimmt.

Dieser Mann ist der Protagonist in Thomas Manns berühmtem Roman "Der Tod in Venedig" - und mit diesen Sätzen hat der Autor auch das Bauwerk in das kulturgeschichtliche Gedächtnis eingeschrieben. Doch in der Realität klafft eine Leerstelle, beziehungsweise zwei: die beiden Sphinx-Figuren, die "apokalyptischen Tiere", sind seit Jahrzehnten spurlos verschwunden. Nun laufen die Vorbereitungen, die steinernen Fabelwesen zumindest als Replik an ihren angestammten Platz zurückkehren zu lassen. "Wir haben die Chance, München ein Stück Kultur zurückzugeben", sagt Wolfgang Gottschalk.

Der 66-jährige Steinmetzmeister und Restaurator steht in seiner kleinen Werkstatt in Garching-Hochbrück; ein Gasofen bollert gegen die Kälte an, auf der einen Seite lagern dicht an dicht Baumaterial, Maschinen und Werkzeug, um der Hauptperson genug Raum zu geben: dem Modell einer jener Sphingen im Maßstab eins zu eins - 1,92 Meter lang, 62 Zentimeter breit, 1,80 Meter hoch. Gottschalk fährt fast zärtlich über die Kanten der voluminösen Schablone, geschnitzt aus geschäumtem Styropor-Kunststoff.

Es wird die plastische Vorlage für jene, die das Mischwesen aus Löwenkörper und Hahnenkopf bald aus dem Stein meißeln werden. Gottschalk lässt durchblicken, dass es durchaus knifflig ist, dieses Stück Kultur wieder ins Stadtbild zu setzen. "Wir haben sehr viel recherchiert. Und es ist klar geworden: Wir müssen das Modell anhand dieses einzigen erhaltenen Archivbildes machen", sagt er und deutet auf ein groß aufgezogenes Bild der Original-Sphinx an der Hinterwand der Werkstatt, wie sie sich Thomas Mann und seinen Zeitgenossen im Jahr 1905 am Hauptportal des Nordfriedhofs dargeboten hat.

Und eben so soll es im Juli dieses Jahres wieder aussehen. Die Enthüllung der Skulptur wird einer der Höhepunkte im Reigen der Veranstaltungen zum Jubiläum "200 Jahre kommunales Friedhofs- und Bestattungswesen", das die Stadt heuer feiert. Die Friedhofsverwaltung stieß mit der Sphinx-Projekt-Idee auf helle Begeisterung beim stellvertretenden Landesinnungsmeister des Verbands Bayerischer Steinmetze, Markus Steininger. "Ja klar können wir das machen", hat er sogleich geantwortet. Steininger erkannte die Chance, seinen Berufsstand zu präsentieren, eine Branche, die große Nachwuchssorgen plagen. Im Spätsommer 2018 hievte Ulrike Grimm die Sphingen auf die Tagesordnung des Münchner Stadtrates. Seitdem ist die Aufstellung der Replik beschlossene Sache - und bei der Entstehung einer von ihnen kann die Öffentlichkeit sogar live dabei sein: Lehrlinge und Meisterschüler werden sie in einem frei zugänglichen Zelt auf dem Friedhofsgelände anhand von Gottschalks Modell aus einem gut zweieinhalb Tonnen schweren Block Kelheimer Kalkstein hauen und dann der Stadt als Schenkung überlassen. Die zweite Figur soll ausgeschrieben und erst 2020, ebenfalls per Stadtratsbeschluss, auf den Weg gebracht werden.

Die Wiederkehr ist also geritzt - doch das Verschwinden der "apokalyptischen Tiere" bleibt ein Rätsel, das nicht abschließend geklärt ist. "Bis heute gibt es keine Nachweise darüber, was mit den beiden Sphingen geschehen ist", heißt es in einer Behördenvorlage. Sehr wahrscheinlich seien sie im Krieg beschädigt und nach dem Zweiten Weltkrieg abgebaut worden. Der Literaturwissenschaftler und Vorsitzende des Thomas-Mann-Forums München, Dirk Heißerer, hat dem vehement widersprochen. Nach seinen Recherchen haben die Figuren den Krieg unversehrt überstanden, ein Münchner Baurat habe sie jedoch Ende der Sechzigerjahre "eigenmächtig" an einen Steinmetz aus Niederbayern verkauft. Er bezieht sich auf einen Brief, in dem der stellvertretende Leiter des Stadtarchivs München einem Thomas-Mann-Forscher im August 1997 über den Verbleib der Sphingen Auskunft gab. "Diese Scheißviecher müssen weg", zitiert Heißerer die angeblich überlieferte Begründung des längst verstorbenen Baurats. Der Vorgang sei zwar aktenkundig geworden, die Dokumente allerdings schon lange vernichtet.

So bleibt das Schicksal der Sphingen obskur - was passend ist, steht die Sphinx doch symbolhaft für das Rätselhafte und Geheimnisvolle. Leichter macht das die Arbeit von Gottschalk und seiner Lebensgefährtin Barbara Oppenrieder, ebenfalls Steinmetzmeisterin, nicht: Das einzig brauchbare historische Foto ist eine Schrägansicht. "Durch die Perspektive ist es schwierig, die Proportionen herauszufinden", sagt Gottschalk.

Doch der Mann mit dem Musketier-Bart und der verschmitzt-bedächtigen Art hatte schon viele Kunstwerke unter seinen großen Händen: Er restaurierte die Steinbock-Skulpturen vor dem Tierparkeingang, das Brunnenbuberl am Karlstor. Die Ermittlungen, wie die Plastik aussah, und zwar ganz genau - die bereiten ihm sichtliche Freude. Man merkt es, wenn er emsig in einem dicken Ordner blättert, voll mit Dokumenten: das Ergebnis anderthalbmonatiger Recherche. Zunächst hat das Steinmetzmeister-Paar sich mit Stadtbaurat Hans Grässel beschäftigt, der neben Ost-, West- und Waldfriedhof auch den Nordfriedhof plante; er wurde zwischen 1896 und 1899 errichtet, mit markantem, byzantinisch inspirierten Kuppelbau der Aussegnungshalle, reichem figurativen Schmuck, Inschriften in Goldlettern. Gottschalk und Oppenrieder schauten sich die zwei Sphingen am Haupteingang zum Waldfriedhof an - allerdings sind das klassisch-griechische Mischwesen mit Frauenkopf und Löwenkörper. Letzteren studierte das Paar am lebenden Objekt im Tierpark Hellabrunn, ließ sich von der Berliner Friedhofsverwaltung die Dokumentation einer geflügelten, pfauenartigen Sphinx vom Alten Luisenstädtischen Friedhof zukommen.

Das musste reichen für eine originalgetreue Sphinx-Blaupause, ein wuchtiges Wesen mit Heiligenschein und einem Schild in den Krallen, auf dem "Sehet zu" eingraviert sein wird, nach der Stelle im Markus-Evangelium: "Sehet zu, wachet und betet; denn ihr wisset nicht, wann es Zeit ist." Der letzte Schliff soll Anfang April fertig sein, wenn die Lehrlinge und Meisterschüler im Zelt am Friedhof loslegen; 280 Arbeitsstunden sind angesetzt.

Oppenrieder hat auch schon einen Gattungsbegriff für das Fabeltier, der seinerzeit Thomas Mann unbegreiflicherweise nicht eingefallen ist: byzantinischer Wolpertinger.

© SZ vom 17.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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