Unterföhring:Getanzte Linien

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Ungestümes Balzen, vorsichtiges Beschnuppern, selbstbewusstes Kokettieren - die Protagonisten zeigen ein Konzentrat dessen, was moderner Tanz sein kann. (Foto: Robert Haas)

Choreograf Johannes Härtl zeigt mit seinem Ensemble in Unterföhring den Charme des Ungeschliffenen

Von Franziska Gerlach

Am Ende gleicht die Bühne im Bürgerhaus Unterföhring einem Schlachtfeld. Allerdings ist man in diesen unberechenbaren Zeiten dann doch erleichtert, dass die jungen Tänzer dort lediglich Narzissen, Tulpen und Plastikentchen hinterlassen haben - mitsamt der beruhigenden Gewissheit, dass Beziehungen etwas Dynamisches sind. Veränderbar. Der Außenseiter kann Freunde finden, die Versöhnung einer verkrachten Familie ist möglich. Und Isolation lässt sich durchbrechen. Besonders im Tanz.

"Invisible Lines" heißt die Produktion von Johannes Härtl, die am Donnerstagabend ihre Uraufführung in Unterföhring erlebte. Eine gute Stunde dauerte die Performance, für die der 39 Jahre alte Choreograf und Co-Direktor der bekannten Tanzschule Iwanson in München sieben Tänzer gecastet hatte. Aus Italien, von den zu Dänemark gehörenden Färöern, aus Kroatien, Israel und natürlich aus München kommen sie, da blieb für die gesprochenen Passagen des Stückes nur das Englische als gemeinsame Sprache. Im Tanz aber, wenn ihre Körper aufeinander zustreben und sich wieder voneinander entfernen, brach sich die Intensität von Härtls jüngster Inszenierung bis in jede Muskelfaser Bahn. Ein Konzentrat dessen, was moderner Tanz alles sein kann: Ein ungestümes Balzen, ein vorsichtiges Beschnuppern, ein selbstbewusstes Kokettieren, einerseits. Denn so leidenschaftlich die Bewegungen der Tänzer auch erscheinen mögen, wenn sie etwa mit Karacho zu Boden fallen oder mit der Lässigkeit eines New Yorker Breakdancers Drehungen vollführen - ein Produkt des Zufalls ist das Ganze freilich nicht. Dahinter steht eine aufwendige Produktion und neun Wochen Proben.

Das hat Härtl gerade erzählt. Jetzt, da die gigantische Show vorüber ist, sitzt der Choreograf, Karohemd und feuerrote Sneaker, am Bühnenrand und erzählt, wie sein jüngstes Projekt entstanden ist. Anschließend darf das Publikum dem Künstler Fragen stellen, und Härtl erweist sich in diesem Dialog dankenswerterweise als einer, der seine Gedanken in verständliche Worte zu packen imstande ist.

Er wisse natürlich, dass zeitgenössischer Tanz eine recht abstrakte Angelegenheit sei: Ein schlüssiger Plot - die Geschichte - fehlt in solchen Produktionen bekanntermaßen oft. Der Zuschauer bleibt zurück mit der Frage, was der Künstler denn nun damit habe sagen wollen. Also erzählt Härtl den Zuschauern einfach, wie "Invisible Lines" zustande gekommen ist: Der Tod seines Vaters im Dezember 2015 habe "den Impuls" zu diesem Stück gesetzt. "Ich hatte keine großartige Beziehung zu ihm. Trotzdem ist etwas weggefallen."

Ein prägendes Erlebnis: Damals habe er von einem Tag auf den anderen gespürt, dass er nun mehr Verantwortung trage. Also wollte er den Verbindungen einmal nachspüren. Die sichtbaren wie unsichtbaren Linien des menschlichen Miteinanders verdichten sich bei Härtl zu getanzten Bildern - genau wie im richtigen Leben, wo Liebeleien zu Partnerschaften und Partnerschaften zu Ehen werden. Mit dem Unterschied, dass sich in Unterföhring die innigen Umarmungen der Tänzer zugleich in irren Lichteffekten niederschlagen. Processing nennt sich die Technik, bei der auf der Bühne ausgeführte Bewegungen mit Kameras eingefangen und unmittelbar auf eine Leinwand übertragen werden. Nicht als Scherenschnitte der Tänzer, sondern als zarte Linien und Punkte, die dann zu einem Netz werden. Ein Netz an Beziehungen, wenn man denn eine Metapher bedienen wollte.

Überhaupt greift nicht zu hoch, wer Härtls Choreografie mit einem wunderschönen Bilderbuch vergleicht. Sie ist zweifelsohne eine moderne Hommage an das Gefühl, die zwar mit jedem Duett, mit jeder Hebefigur zahllose Sehnsüchte des Menschen offenbarte, sich aber jeglichen Flirt mit dem Kitsch verkneift. Im Gegenteil: Tradierte Rollenbilder wurden hier immer wieder aufgebrochen. Männer schulterten Frauen, Frauen schulterten aber auch Männer, und als die nackten Füße auf den Boden klatschten, entwich die Anmut aus den Gliedern der Tänzer und wurde: frei, wild, lebendig.

Nun ist Tanz ja auch die Kunst, den Anschein der Mühelosigkeit bei maximaler Anstrengung aufrecht zu erhalten. Doch gerade dieses bewusst Ungeschliffene macht eben den Charme junger Tanzprojekte aus. In manchen Momenten ließ die Darbietung einen aber zusammen zucken in der eigenen Komfortzone. Nicht nur die Szene, in der die Tänzer Blumen in ein fiktives Grab warfen, wirkte nach. Womöglich erinnerte die Härte, mit welcher der (schauspielerisch begabte) Färinger in der Rolle eines Vaters die anderen zurechtstutzte, an die eigene Familie, an wütend zugeknallte Türen oder ungerechtfertigten Tadel. Und die Plastikenten? "Eine wahre Geschichte", sagt Härtl. Irgendwann in den Achtzigerjahren kippten 28 000 von ihnen versehentlich in den Pazifik. Ein paar spuckte die See wieder aus. Ein mit Verlaub etwas skurriles Bild dafür, dass man dem Sog eines unglücklichen Lebens entkommen kann. Aber auch das ist Härtl.

© SZ vom 18.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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