SZ-Serie "Reife(n)prüfung":Wider die Bequemlichkeit

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Nicht nur aus ökologischen Gründen spricht vieles dafür, dass Schüler mit dem Fahrrad fahren. Sie werden so auch selbständiger. (Foto: Imago/Action Pictures)

Wenn kommende Woche die Schule beginnt, bringen wieder viele Eltern ihre Kinder mit dem Auto. Lehrer und Rektoren sehen das kritisch. Denn wer mit Rad oder Roller fährt, kommt entspannter an und tut etwas für sich und die Umwelt. Aktionen sollen das fördern.

Von Helena Ott, Landkreis

Noch vier Tage, dann startet das neue Schuljahr. Schon früh am Morgen geht es dann für Christine Neumann wieder "ums Überleben", wie sie es nennt. "Wenn sie die Möglichkeit hätten, würden die Eltern ihre Kinder bis ins Schulgebäude reinfahren", sagt die Rektorin der Grundschule Neukeferloh kopfschüttelnd. "Aber wenn wir so weiter leben wie bisher, dient die Erde bald nicht mehr als Lebensraum". Neumann ist 57 Jahre. Mehr als um sich, macht sie sich Sorgen um die Generation ihrer Schüler, deren Umwelt und Lebensgrundlage. Energie sparen, den Kohlendioxidausstoß drosseln und die Natur schützen - das sind Anliegen, die der Schulleiterin wichtig sind. Deshalb will sie möglichst alle Eltern dazu bringen, ihre Kinder zu Fuß, mit dem Roller oder Fahrrad zur Schule zu schicken.

Sie selbst fährt jeden Morgen mit dem Rad. "Wenn es sein muss mit Gummistiefeln, Regenhose und Regenjacke." Neumann hat kein Auto, bewegt sich - innerhalb Deutschlands - nur mit der Bahn oder dem Fahrrad. Aber gutes Vorbild zu sein allein reicht nicht. Deshalb hatte Neumann nach den Osterferien den Verkehrspass an ihrer Grundschule eingeführt: ein beidseitig bedruckter Zettel mit 21 Feldern für Unterschriften. An jedem Tag, an dem die Kinder zu Fuß, mit dem Roller oder Fahrrad in die Schule kommen, sollten die Eltern unterzeichnen. Kinder, die einen vollen Verkehrspass ablieferten, durften ein Blatt an einen großen Baum aus Pappe in der Aula der Schule stempeln. Seit Ostern hat der Baum rund 300 Blätter dazu bekommen - ein buntes Symbol für mehr Klimaschutz und Umweltbewusstsein.

Der "Bringtourismus" verstopft den Utzweg in Unterhaching

Brigitte Grams-Loibl, die Leiterin des Lise-Meitner-Gymnasiums in Unterhaching, kennt das Problem "Bringtourismus". Regelmäßig ist der Utzweg vor dem Gymnasium verstopft. Um der morgendlichen Schlange an Autos zu entgehen, kommen die Direktorin und ihre Kollegen extra schon um 7.30 Uhr. Sie kann sich nicht erklären, warum so viele Eltern ihre Kinder mit dem Auto bringen. Mehrfach hat sie das Thema in Elternbriefen und an Elternabenden angesprochen. "An der Anbindung kann es definitiv nicht liegen, es kommen fast alle Schüler aus Unterhaching und der direkten Umgebung", sagt Grams-Loibl.

Seit vielen Jahren befasst sich auch der Unterhachinger Gemeinderat mit der überlasteten Schulzufahrt. Bürgermeister Wolfgang Panzer (SPD) will dem Gremium noch im September ein Verkehrsleitkonzept vorlegen, dass Eltern davon abhalten soll, ganz in den Utzweg einzufahren und ihre Kinder stattdessen schon vorher am Sporthallenparkplatz abzusetzen. Aber das kostet Geld und bringt nur dann etwas, wenn die Eltern sich darauf einlassen.

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Auf dem Schulweg werden die Kontakte gepflegt

Von Verkehrschaos vor ihrer Schule kann die Leiterin der Grundschule in der Nachbargemeinde Deisenhofen, Dorothea Büchlmeir, dagegen nicht berichten. Dreiviertel der Schüler fahren mit Rad oder Roller oder kommen zu Fuß. In der ersten Schulwoche sind es noch einmal ein paar mehr, denn dann warten Eltern in der Aula mit kleinen Belohnungen auf Schüler, die nicht mit dem Auto gebracht werden. So beteiligt sich die Deisenhofner Grundschule am Oberhachinger Gemeindeprojekt "Autofrei - ich bin dabei", das immer in der ersten Schulwoche stattfindet.

In der Gemeinde liegen schon 300 Stempelkarten für die Schüler bereit und circa 40 Eltern haben sich gemeldet, um wieder mitzuhelfen. Sie postieren sich auf dem Schulweg, mit Stempeln für das Stempelheft, sodass keiner schummeln kann, setzen Haken in die Klassenlisten und verteilen am Eingang Stifte oder Äpfel. Jeder Kilometer Schulweg ohne Autos wird addiert. Im vergangenen Jahr sind so in der ersten Schulwoche 3467 Kilometer zusammen gekommen. "Wir zeigen den Schülern dann auf einer großen Weltkarte, wie viel das ist - letztes Mal sind wir bis nach Grönland gekommen", sagt Dorothea Büchlmeir. "Wir haben immer wieder beobachtet, dass Kinder das Autofahren abgelehnt haben, weil sie sich beteiligen wollten," sagt Christine Neumann über die ähnliche Aktion in Neukeferloh, den Verkehrspass.

Die Rektorin und ihre Kolleginnen aus dem Landkreis sind sich einig, dass der Schulweg an der frischen Luft nicht nur die Umwelt schont. Er habe auch eine entscheidende soziale Funktion: Die Kinder können sich mit ihren Freunden vor dem Unterricht austauschen. "Der Schulweg ist die Zeit, in der die Kinder soziale Kontakte pflegen. Hier bilden sich erste Allianzen", sagt die Keferloher Rektorin Neumann.

Rückblick: Zehn vor acht in Grünwald an einem der letzten Schultage vor den Sommerferien. Auf Mountainbikes in schrillen Farben kommen die ersten Schüler. Sie lachen, unterhalten sich über den bevorstehenden Wandertag. Zwei Mädchen mit Pferdeschwanz rollen nebeneinander auf Skateboards bis vor die Tür. Obwohl Grünwald eine der reichsten Gegenden im Landkreis ist, bestätigt sich die Annahme nicht, dass hier jedes Kind von den Eltern chauffiert wird. Die circa hundert überdachten Stellplätze sind jeweils doppelt mit Fahrrädern besetzt.

"Wichtiger Prozess beim Selbständigwerden"

Gleiche Zeit in Kirchheim: Ein Elfjähriger schiebt sein Mountainbike in den Ständer. Er hat schon eine 40-minütige Radtour hinter sich, aus der Messestadt Riem, wo er wohnt. "Am Anfang des Schuljahres hat mein Papa mir einmal den Weg gezeigt und jetzt fahr' ich alleine", sagt der Bub. Dorothea Büchlmeir glaubt, dass Schüler so lernen, sich sicherer durch den Verkehr zu bewegen. "Wenn man Kinder überall mit dem Auto hinfährt, kennen sie die Orte immer nur punktuell und können sich schlecht orientieren." Ihre Kollegin Iris Jäger, Rektorin an der Kirchheimer Grund- und Mittelschule, hat die Erfahrung gemacht, dass der Schulweg, die Viertelstunde, in der die Kinder unbeobachtet von Eltern oder Lehrpersonal sind, "ein wichtiger Prozess beim Selbständigwerden" ist. Aber wie autonom sie sein dürfen, entscheiden Schüler selten selbst.

Christine Neumann erzählt von Abschiedsszenen mit Küssen und Winken, als würde die Schule die Kinder gleich nach der Ankunft verschlucken. Neumann vermutet eine irrationale Angst der Eltern, die ihre Kontrolle nicht abgeben könnten. "Aber meistens ist es, glaube ich, einfach Bequemlichkeit, es muss schnell gehen in der Früh", sagt die Schulleiterin. Einen Gefallen tun Eltern ihren Kindern mit dem Chauffierdienst nicht. So helfe die Bewegung an der frischen Luft vor und nach der Schule den Kindern beim Spannungsabbau, sagt die Unterhachinger Gymnasialrektorin Grams-Loibl. Bei vielen Eltern stoßen die Schulleiterinnen dennoch auf taube Ohren.

© SZ vom 07.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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