SZ-Serie: Der Sound des Sommers:Das Sehen der anderen Art

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Gisela Zieglmeier ist blind und orientiert sich daher anhand von Geräuschen. Doch sie spürt auch, wenn etwa Häuserwände auf sie zukommen. Ihr Trainer hat ihr erklärt, das sei Ultraschall, mit dem sie das wahrnehme. Häufig bekommt sie auch Hilfe von Passanten

Von Gudrun Passarge, Oberschleißheim

Gisela Zieglmeier weiß genau, wo sie hin möchte. Sie peilt eine der Bänke im Schleißheimer Schlosspark an, um sich darauf auszuruhen. Es ist einer ihrer Lieblingsorte, auch wegen der Hintergrundmusik. Der Kaskadenbrunnen und die Fontänen sprudeln, wer direkt daneben steht, könnte sogar behaupten, sie donnern. Aber auf der Bank unter den Linden ist es lauschig. Die 72-Jährige kommt oft hierher, allerdings immer mit Begleitung, denn Gisela Zieglmeier ist seit ihrem 28. Lebensjahr blind. Trotzdem kann es passieren, dass sie einem im Gespräch sagt, "ich sehe das anders" und das auch so meint, denn sie spricht von einem "Sehen der anderen Art", das viel mit Geräuschen zu tun hat.

Das Plätschern von Wasser, die Vögel im Park, das Rauschen der Bäume - Gisela Zieglmeier liebt harmonische Geräusche. Zu intensiver Lärm, etwa von einem Hubschrauber, stört ihre Wahrnehmung. (Foto: Robert Haas)

Sie gibt dafür ein einfaches Beispiel. Es gab einen Jungen in ihrem Bekanntenkreis. Jemand anders kritisierte allerdings das Benehmen des Jungen und monierte, dass er Hosen trug, die bis in die Kniekehle hingen, durchaus der Mode der damaligen Zeit entsprechend. Zieglmeier wusste davon nichts, sie entgegnete nur: "Aber er hat doch so eine nette Stimme".

Gisela Zieglmeier ist klein und zierlich. In ihrer Wohnung bewegt sie sich mit schlafwandlerischer Sicherheit. "Welche Jacke soll ich anziehen", will sie wissen. Und fügt gleich hinzu, ein paar Regentropfen machten ihr nichts aus, sie sei ja nicht aus Zucker. Dann greift sie nach einer Fleece-Jacke und ist gehbereit. Sie wirkt sehr zielstrebig, sie sagt klar, was sie möchte und schaut einem dabei direkt ins Gesicht. "Ich sehe das Gesicht", erklärt sie, "wenn jemand mit mir spricht, sehe ich auch seinen Gesichtsausdruck." Sie erkenne zum Beispiel hängende Mundwinkel oder lachende Augen. Wer blind ist, schaue ganz anders hin, sagt sie. Beim Sprechen komme vieles rüber, "insofern muss ich nicht sehen können".

Die 72-Jährige war allerdings nicht immer blind. Sie leidet unter einer degenerativen Netzhauterkrankung. Als Kind schon machte ihr das Probleme. Mal sah sie das Glas auf dem Tisch, mal nicht. Auch mit anderen zu spielen, war nicht immer einfach: "Ballspiele habe ich gehasst." Die Diagnose bekam sie erst mit zehn Jahren. Danach sollte sie auf eine Sehbehindertenschule wechseln. "Pfff, nee", sie winkt entrüstet ab, das kam für sie nicht in Frage. Sie besuchte ein Gymnasium, brach aber mit 17 ab, weil sie nicht in dieser Schule bleiben wollte. Zu dieser Zeit brauchte sie schon eine Leselupenbrille. Sie machte eine Ausbildung als Physiotherapeutin und kam in Deutschland herum. Stationen waren Norderney, Kiel, Berlin. Und schließlich Unterschleißheim, wo sie ihre erste Stelle antrat, sich verliebte und heiratete, mit 20 Jahren.

Sie bekam zwei eigene Kindern und auch der Sohn ihres Mannes aus einer vorigen Ehe gehörte zur Familie. Sie ging ganz in der Rolle der Mutter und Hausfrau auf. Doch ihr Sehvermögen nahm schleichend weiter ab. Damals, sagt sie, habe sie lange Zeit ihre Sehbehinderung nach außen hin nicht zugeben wollen, was typisch sei für diesen langsamen Verlauf. Ihre Kinder seien jedoch sehr feinfühlig gewesen und hätten ihr geholfen. Zum Beispiel beim Einkaufen oder auch auf dem Weg zum Bus. Sie hatte sich angewöhnt, immer einen halben Schritt hinter den anderen zu laufen, damit sie zurechtkam. Oft genügte ein leichter Druck am Arm, um ihr den Weg zu zeigen oder etwa auf Bordsteinkanten aufmerksam zu machen. Selbständigkeit war ihr immer wichtig. Als ihre Tochter 18 Jahre alt war, fiel der Mutter die Decke auf den Kopf, wie sie sagt und sie wandte sich an den Blindenbund: "Ich wollte wieder lesen und schreiben können." Sie lernte auch, mit dem Blindenstock zu gehen. Zu Beginn trainierte sie im eigenen Heim. Sie musste eine schwarze Brille aufsetzen und lernen, ihre Umgebung neu wahrzunehmen. "Du musst lernen, zu spüren", sagt sie. Wo ist die Absenkung in der Einfahrt, wo beginnt die Hecke, wo hört das Haus auf, "ich merke auch, wenn ein Auto auf der Straße geparkt ist und du spürst automatisch, wenn die Häuserwände auf dich zukommen." Ihr Trainer habe ihr erklärt, das sei Ultraschall, mit dem sie das wahrnehme. "Du gehst mit allen Sinnen."

Dazu gehören eben auch Geräusche. "Sie machen ein lebendiges Bild", sagt Zieglmeier. "Voraussetzung ist, ich weiß, was es ist." Die 72-Jährige lebt seit dem Tod ihres Mannes allein. Sie ist fast völlig autark in ihrer Wohnung, die an einer belebten Straße in Unterschleißheim liegt. Dort betreibt sie auch immer noch ihre Praxis für Atemtherapie, eine Ausbildung, die sie gemacht hat, weil sie feststellte, dass sie ihr selbst sehr geholfen hat, als sie an Asthma erkrankte. Einkaufen geht sie selbst. Dass sie dabei mehrere Straßen überqueren muss, schreckt sie nicht. "Ich habe keine Angst. Man muss sich sehr, sehr sicher sein." An der Kreuzung vor ihrem Haus ist besondere Aufmerksamkeit gefordert, "es muss aus allen vier Richtungen ruhig sein. Solange warte ich gerne." Ampeln benutzt sie bei ihren Ausflügen allerdings nicht, "die sind so schwer zu finden", sagt sie. Oft bekommt sie auch Hilfe von jemandem, der ihr sagt, dass sie gehen kann oder der sie begleitet. "Ich sage immer, ach, wieder ein Engel unterwegs."

Geräusche sind in Zieglmeiers Welt allgegenwärtig. Sie mag es nicht, wenn die Rasenmäher um sie herum röhren oder wenn Sirenen zu hören sind, die alles andere übertönen. Beängstigend war auch ein Erlebnis jüngst in der Nacht. Zieglmeier wachte auf und hörte einen Hubschrauber, der über dem Wohngebiet kreiste, etwa 40 Minuten lang. "Wenn ein Geräusch derart laut ist, dann überlagert es alle Sinne und ich fühle mich sehr hilflos." Dagegen liebt sie die Geräusche der Natur. Manchmal besucht sie Bekannte am Chiemsee. Dort findet sie alles, was sie mag, "die vielen Geräusche von den Tieren. Das finde ich schön. Das ist das einzige, warum ich noch mal sehen möchte - die Farben der Blumen, die Natur". Deswegen kommt sie auch so oft wie möglich in den Schleißheimer Schlosspark, dessen Atmosphäre sie schätzt. "Die uralten Bäume haben fast so etwas wie eine Sprache, die man spürt."

Gisela Zieglmeier hat sich in ihrem Leben eingerichtet. In ihrer modern gestalteten Wohnung fällt nicht auf, dass hier jemand ohne Sehvermögen lebt. Es hängen viele Bilder an der Wand, Fotografien, Aquarelle, Ölbilder, die Couch ist rot und die Essecke in einem Türkiston gehalten, auf der Kommode plätschert ein Zimmerbrunnen. Die Möbel habe sie mit einer Bekannten ausgesucht. Der Verkäufer habe sich zuerst an die Bekannte gewandt, bis er dann gemerkt habe, dass sie diejenige ist, die entscheidet, trotz der Blindheit.

Zieglmeier selbst bezeichnet sich als Sinnsucherin, "alles muss irgendwie im Leben einen Sinn haben". Sie findet, sie habe schon ganz viel erreicht, "und ich für mich bin zufrieden, dass ich mich mit der Situation gut arrangiert habe".

Ende der Serie

© SZ vom 09.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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