Stummfilm:Alltag in Odessa

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"Küspert & Kollegen"steuern am Eröffnungsabend die musikalische Flankierung bei, wenn der Klassiker mit den Komikern Stan Laurel und Oliver Hardy gezeigt wird. Die dargebotenen Klänge haben die Musiker eigens für dieses Programm komponiert. (Foto: Privat)

Das sowjetische Werk "Der Mann mit der Kamera" von Dsiga Wertow ist am Samstag auf großer Leinwand im Wolf-Ferrari-Haus in Ottobrunn zu sehen. Musiker FM Einheit sorgt für die klangliche Untermalung

Von Udo Watter, Ottobrunn

Walter Ruttmanns Experimentalfilm "Berlin: Sinfonie der Großstadt" von 1927 dürfte dem ein oder anderen Cineasten ein Begriff sein. Geprägt von rhythmisch geschnittener Dynamik fängt die Dokumentation einen Tag in Berlin ein: das hektische Arbeits- und Alltagsleben der deutschen Metropole. Sein Titel wurde charakteristisch. Der sowjetische Film "Der Mann mit der Kamera" von 1929 ist hierzulande zwar weniger bekannt, hat aber eine ähnliche Thematik und wegweisende Qualität: Er zeigt auf poetische und experimentelle Weise das alltägliche Leben in den damaligen ukrainischen Sowjet-Städten Kiew, Charkow und Odessa. Das filmhistorisch bedeutsame Werk des Regisseurs Dsiga Wertow, das von der britischen Filmzeitschrift "Sight and Sound" sogar zur "besten Dokumentation aller Zeiten" gekürt wurde, ist am kommenden Samstag im Ottobrunner Wolf-Ferrari-Haus auf großer Leinwand zu sehen.

Freilich ist es neben dem visuellen Reiz vor allem die musikalische Untermalung, welche die Vorstellung so bemerkenswert machen dürfte: FM Einheit, bekannt als Mitglied der Kultband Einstürzende Neubauten, wird den Film auf seine spezielle moderne Art in Klang fassen - nicht zuletzt mittels zu Instrumenten gewandelten Alltagsgegenständen und selbst entwickelten Klangkörpern. "Es wird eine spannenden, avantgardistische Vorstellung", verspricht Cornelius Claudio Kreusch. Der Jazz-Pianist, zusammen mit seinem Bruder Johannes Tonio Kreusch künstlerischer Leiter der Ottobrunner Konzerte, wird selbst aktiv eingreifen: Die beiden Kreuschs begleiten den Elektronik-Avantgardisten FM Einheit (mit bürgerlichen Namen Frank-Martin Strauß) am Sonntag im Wolf-Ferrari-Haus: "Er wird uns improvisatorisch ins Klanggeschehen einbauen."

Das von den Brüdern organisierte "Stummfilm-Festvial mit Live-Musik" startet bereits einen Tag vorher. Da wird der sinnliche Generalangriff im Wolf-Ferrari-Haus allerdings eine Kombination aus Jazz und Slapstick sein. Am Freitag, 12. November, stehen dort Klassiker des legendären Komiker-Duos Stan Laurel und Oliver Hardy im Fokus. Für die musikalische Flankierung zeichnet das Ensemble "Küspert & Kollegen" verantwortlich: mit dem Echo-Preisträger Bastian Jütte am Schlagzeug, dem Kontrabassist Andreas Kurz, dem Münchner Saxofonist und Klarinettist Till Martin, der unter anderem den Preis der deutschen Schallplattenkritik und den Bayerischer Kunstförderpreis erhalten hat sowie Komponist und Leiter Werner Küspert (Gitarre). Zu Filmen wie "From Soup To Nuts", "Liberty" oder "The Finishing Touch" erklingen ungewöhnliche, speziell für das Programm komponierte Live-Klänge. "Küspert hat sich auf Stummfilmmusik spezialisiert", so Johannes Tonio Kreusch. "Die ist zum Großteil auch auskomponiert." Er und sein Bruder haben selbst auch schon Erfahrung in der musikalischen Gestaltung von Silent Movies gemacht und auf diversen Festivals Erfahrungen gesammelt. Beim von ihnen kuratierten "Look into the Future"-Festival in Burghausen sind experimentelle Stummfilmvertonungen ein wichtiger Programmpunkt: FM Einheit hat dort etwa 2020 den sowjetischen Science-Fiction-Film "Die kosmische Reise" von Vasily Zhuravlyov (1936) klanglich-elektronisch veredelt.

Die Ottobrunner Konzerte, die unter dem Zusatz "Classical & Beyond" firmieren, gelten als Reihe, die sich Ungewöhnliches und Originelles auf die Fahnen geschrieben hat - in puncto Format, Besetzung und Künstlernähe. Man darf gespannt sein wie viele Cineasten und Freunde von jazzigen wie experimentellen Klänge am Wochenende den Weg nach Ottobrunn finden werden. "Der Mann mit der Kamera" gilt ja als Pionier-Tat, bei der erstmals eine Vielzahl von Filmtechniken eingesetzt wurden - darunter Mehrfachbelichtung, Zeitlupe und Zeitraffer oder Stop Motion-Animation. Große Kunst und gutes Timing wird aber sicher auch den Laurel & Hardy -Abend auszeichnen. Werner Küspert, der quasi die ganze Stummfilmzeit schon durchforstet und vielfach vertont hat, sagte in einem Interview: "Ich habe nicht nur komplette Stücke geschrieben, sondern auch relativ komplexe Strukturen geschaffen, innerhalb derer sich die Musiker improvisatorisch bewegen und vor allem in Interaktion zueinander treten und zudem Bild- und Filmsequenzen musikalisch vorbereiten." Dürfte ein Spaß auf hohem musikalischen Niveau werden.

Vorstellungen am 12. November (Laurel & Hardy) und 13. November ("Der Mann mit der Kamera"), Beginn 20 Uhr. Infos und Tickets über www.wfh-ottobrunn.de respektive Reservix.

© SZ vom 08.11.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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