Unterschleißheim:Endlich Klarheit - Sehbehindertenzentrum bietet Hilfe

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In Lydia Unterberger haben Kinder und Jugendliche, die an einer zerebral verursachten Wahrnehmungsstörung leiden, eine Ansprechpartnerin. (Foto: Robert Haas)

Kinder, die unter der Wahrnehmungsstörung CVI leiden, fallen bei Medizinern oft durchs Raster: Sie können normal sehen, aber die Bilder im Gehirn nicht richtig verarbeiten. In Unterschleißheim gibt es dafür jetzt die deutschlandweit erste Beratungsstelle.

Von Gregor Bauernfeind, Unterschleißheim

"Mama, die anderen können alle schon lesen und schreiben. Warum ich nicht?", habe sie Maximilian in der zweiten Klasse gefragt, erzählt Anne Schmidt (Namen geändert). Zu dem Zeitpunkt habe sie schon eine Odyssee von Besuchen bei Psychologen und Augenärzten hinter sich gehabt. Was war nur los mit ihrem Sohn, der ständig stolperte und gegen Möbel lief, obwohl er sonst sehr geschickt war? Der schnell Freunde fand, aber in großen Gruppen gestresst und ängstlich wurde? Der sich mit dem Lesenlernen so schwer tat, obwohl ihm Lehrer einen riesigen Sprachschatz attestierten? Experten konnten die verschiedenen Symptome nicht auf einen Nenner bringen.

Kurz nach der traurigen Frage ihres Sohne landeten Mutter und Sohn bei Lydia Unterberger am Sehbehinderten- und Blinden-Zentrum Südbayern in Unterschleißheim. Die Psychologin stellte fest, dass Maximilian unter einer zerebral verursachten visuellen Wahrnehmungsstörung leidet, kurz CVI (Cerebral Visual Impairment). Für dieses noch recht unbekannte Krankheitsbild gibt es in Unterschleißheim jetzt eine in Deutschland einzigartige Beratungsstelle.

Schwierigkeiten bei der Raumwahrnehmung

Von CVI betroffene Kinder tun sich bei der Raumwahrnehmung schwer. Sie greifen daneben und können beispielsweise Stufen nur ungenau einschätzen. Maximilian sei beispielsweise auf einem gepflasterten Weg problemlos gelaufen, bestätigt die Mutter. Beim Übergang auf den Rasen habe er aber wie vor einem Sprung aus großer Höhe gezögert und sei erst dann weitergespurtet.

Betroffene Kinder übersehen Gegenstände, sie stoßen sich daher häufig, stolpern und fallen hin. Sie haben Schwierigkeiten, Formen, Objekte, Mimik und Gestik, Buchstaben und Zahlen zu erkennen und zu unterscheiden und haben daher oft Probleme beim Lesen und Schreiben. Wegen des unzureichenden Überblicks sind Situationen mit hoher visueller Komplexität für sie anstrengend, die Kinder haben eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, lernen weniger, ermüden schneller oder ziehen sich zurück, um der Informationsflut zu entgehen.

Besonders ist, dass die Wahrnehmungsstörung zerebral verursacht ist. Das bedeutet, dass die visuelle Information zwar im Gehirn ankommt, dort aber unvollständig oder fehlerhaft verarbeitet wird. "Es ist so wie bei einer Digitalkamera", erklärt Schmidt: "Sie können die beste Optik haben, ohne die passende Kamera mit Software tut sich nichts." Die Sehschärfe selbst kann dabei einwandfrei sein. "Das ist ja die fiese Falle", sagt Anne Schmidt, deren Sohn Maximilian der Augenarzt "perfekte Sehfähigkeit" attestiert hat. Wegen der Leseschwäche lande man dann schnell fälschlicherweise in der Legasthenie-Schiene. "Und am Ende fällt das Kind durchs Raster", sagt sie.

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Maximilian und Anne Schmidt landeten dank der mütterlichen Recherche auf verschlungenem Weg bei Lydia Unterberger in Unterschleißheim. Das möchte die Psychologin für zukünftige Fälle ändern. Sie will Bewusstsein schaffen bei Eltern und bei Augenärzten für das Krankheitsbild und für die Möglichkeit, sich in der neuen Einrichtung beraten und fördern zu lassen. Nach dem Anamnesegespräch mit den Eltern, die in der Regel von einem Augenarzt geschickt werden, prüfe sie mit psychometrischen Tests, ob CVI vorliege, erklärt Unterberger.

Einfache Tests

Das funktioniere mit einfachen Tests auch schon bei Kleinkindern. Sollte die Wahrnehmungsstörung diagnostiziert werden, kümmern sich Neuropsychologen, Orthoptiker, Sehbehindertenpädagogen und andere Experten um die jungen Patienten - CVI kann von Komplikationen während Schwangerschaft oder Geburt, von genetischen Grunderkrankungen oder von frühkindlichen Hirnschädigungen verursacht werden, am Sehbehinderten- und Blinden-Zentrum werden Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren betreut.

Da die Wahrnehmungsstörung nach heutigem Stand nicht heilbar ist, gehe man vor allem kompensatorisch vor, sagt Lydia Unterberger. Den Kindern werden Strategien gezeigt, wie sie sich im Alltag orientieren können und wie sie ihr besonderes Sehen einsetzen können. "Wir wollen ihnen das Sehen wieder schmackhaft machen", sagt Unterberger. Je früher man damit beginne, desto leichter falle es den Kindern, ungünstige Sehstrategien zu "überschreiben". Bei der Therapie geht man individuell vor: "Die Spanne reicht von Kindern, die ein bisschen tollpatschig scheinen, bis hin zum 17-Jährigen, der ohne seine Eltern nicht das Haus verlassen will", sagt Unterberger.

Die Therapie ist intensiv, in einem Zeitraum von vier bis fünf Wochen wird fünfmal pro Woche trainiert. Nicht mehr als eine Dreiviertelstunde täglich, sagt Unterberger, es sei für die jungen Patienten auch sehr anstrengend. "Da ist viel Einfühlungsvermögen gefragt", sagt sie.

Betreute Kinder können die Tagesstätte oder die Schulen am SBZ besuchen, sie werden dort gemeinsam mit anderen sehbehinderten Kindern unterrichtet und vom Team um Lydia Unterberger speziell betreut. Andere sind als Inklusionskinder in Regelschulen untergebracht, der Mobile Sonderpädagogische Dienst des SBZ kümmert sich dort um sie, außerdem können Eltern mit ihren Kindern daheim mit speziellen Computerprogrammen üben.

Das SBZ ist gut vernetzt

Schon seit fünf Jahren forscht Lydia Unterberger am Sehbehinderten- und Blindenzentrum über Wahrnehmungsstörungen, sie hat in dieser Zeit auch zu dem Thema promoviert. Von Anfang an wurden auch Patienten betreut, seit Jahresbeginn steht nun der Versorgungsauftrag bei der Beratungsstelle im Vordergrund. Unterberger forscht aber weiter. Sie erweitert bestehende und entwickelt neue Tests zur Diagnose, arbeitet aber auch an neuen Therapieformen. Für die Eltern hat dieser Forschungsauftrag den Vorteil, dass die Behandlung ihres Kindes kostenlos ist, wenn sie es an der Studie teilnehmen lassen. "Und da ist die Mitmachrate bei 100 Prozent", sagt Unterberger.

In rechtlichen und finanziellen Fragen ist für die Eltern von CVI-Kindern ohnehin vieles unsicher, zu unbekannt ist das Phänomen noch. So ist etwa nicht geregelt, ob die Störung als Sehbehinderung anerkannt werden kann. Das wirft wiederum Fragen von Kostenträgern auf, etwa bei den Schulkosten. Momentan muss bei jedem Patienten eine Einzelfallentscheidung getroffen werden. Mit dem Bezirk Oberbayern seien sie am Sehbehinderten- und Blindenzentrum sehr gut vernetzt, sagt Unterberger, ihre Diagnosen hätten hier Gewicht. Auch das Kultusministerium unterstützt die neue Beratungsstelle. In anderen Bundesländern sehe es aber ganz anders aus, sagt sie. Genau wie bei Eltern und Medizinern möchte sie hier Bewusstsein schaffen. "Da stehen wir aber noch am Anfang", sagt Unterberger.

Kindern wie Maximilian hat die Betreuung in Unterschleißheim schon geholfen, sich besser auf die Wahrnehmungsstörung einzustellen. "Es geht vorwärts", sagt Anne Schmidt, "wenn auch in kleinen Schritten." Am erleichtertsten ist Maximilian aber darüber, dass er endlich weiß, was mit ihm los ist. Natürlich habe ihn das belastet, sagt seine Mutter, wenn er beim x-ten Arztbesuch gehört habe, dass irgendetwas mit ihm nicht stimme. "Jetzt ist er froh, dass es einen Namen hat", sagt sie. "Und dass er merkt: Ich bin nicht alleine."

© SZ vom 03.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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