Pullach:"Wie in einer Studenten-WG"

Lesezeit: 3 min

In Gräfelfing existiert bereits eine ähnliche Wohngemeinschaft für behinderte und nicht behinderte Menschen. (Foto: Catherina Hess)

Der Verein "Gemeinsam leben lernen" will in Pullach eine integrative Wohngemeinschaft einrichten. Interessenten aus der Gemeinde gibt es bereits

Von Konstantin Kaip, Pullach

Das neue Mehrfamilienhaus, das die gemeindliche Wohnungsbaugesellschaft in Pullach an der Hans-Keis-Straße errichtet, soll nicht nur günstigen Wohnraum für Pullacher schaffen, sondern auch integrative Wohnformen ermöglichen. Das jedenfalls wurde auf Antrag der WIP-Fraktion im Gemeinderatsbeschluss aufgenommen. Laut Architekt Germar Hansmair könnte das Erdgeschoss als integrative Wohngemeinschaft gestaltet werden. Wie die funktioniert, hat Rudi Sack jetzt den Pullacher Gemeinderäten erklärt. Sack ist der Leiter des Bereichs Wohnen im Verein "Gemeinsam leben lernen", der mittlerweile sieben WGs für behinderte und nicht behinderte Menschen in München, Gröbenzell und Gräfelfing betreibt.

Die Grundidee sei "eigentlich eine ganz schlichte", sagte Sack: "Zusammenleben wie in einer Studenten-WG." In den Wohngruppen des Vereins lebten stets fünf Menschen mit geistiger Behinderung mit vier Bewohnern ohne Behinderung zusammen, meist Studenten oder junge Auszubildende. Dieser Kern aus neun Personen werde unterstützt durch eine feste sozialpädagogische Fachkraft als Leitung der Wohngruppe, eine Hilfskraft im Freiwilligen Sozialen Jahr und dem Netzwerk des Vereins. Diese Zusammensetzung habe sich in der Erfahrung als ideal erwiesen, sagte Sack. Die erste WG dieser Art wurde 1989 im Münchner Stadtteil Neuhausen gegründet und besteht bis heute.

"Das Zusammenleben gestaltet sich auf eine sehr unkomplizierte Art", erzählte Sack. Da die behinderten Bewohner in der Regel in Behindertenwerkstätten arbeiteten, gehe "tagsüber jeder seiner Wege". Abends kümmere sich jeweils ein Trio aus behindertem und nicht behindertem Bewohner und Betreuungskraft um die Selbstversorgung: Kochen für alle, Unterstützung und Hilfe bis zum nächsten Morgen. Für die nicht behinderten Bewohner sei es verpflichtend, einen festen Tag pro Woche und ein Wochenende im Monat zur Verfügung zu stehen, dafür müssten sie keine Miete zahlen. Das Interesse an Zimmern in den WGs des Vereins sei stets sehr hoch, die Kandidaten lernten bei der Vorstellung ihre Mitbewohner kennen und würden dann in einer Art "WG-Casting" ausgewählt. Bei der Auswahl gehe es weniger um die Erfahrung der Mitbewohner, erläuterte Sack. "Uns kommt's eher auf die Haltung der Menschen an: Wollen sie auf Augenhöhe mit Behinderten zusammenleben?" Das könne man beim Vorstellungsgespräch gut einschätzen, wenn die Kandidaten gleich mit den Behinderten ins Gespräch kämen, statt nur über sie zu reden. Zudem sollten die Bewohner mindestens zwei Jahre in der WG bleiben, die durchschnittliche Verweildauer bei den Nichtbehinderten liege zwischen drei und fünf Jahren, sagte Sack. Die behinderten Mitbewohner blieben freilich länger. Der Verein habe eine Warteliste von mehr als 80 Personen, die gerne in so einer WG leben würden.

Im Gemeinderat äußerte Patrick Schramm (CSU) Zweifel, ob es in Pullach überhaupt Bedarf für eine solche WG gebe. Auftrag der Wohnungsbaugesellschaft sei es schließlich, bezahlbaren Wohnraum für Pullacher zu schaffen. Dass sich bei der WG eine Art "Einheimischenmodell" leicht realisieren lässt, zeige die Wohngemeinschaft in Gräfelfing, entgegnete Sack. Dort habe man mit der Gemeinde eine Vereinbarung getroffen: 15 Bewerber habe es dort für fünf Zimmer gegeben, drei davon aus Gräfelfing. Alle drei seien für die WG genommen worden. "Wir würden uns freuen, wenn wir so ein Projekt in Pullach umsetzen könnten", sagte Sack, der selbst in der Isartalgemeinde aufgewachsen ist.

Unterstützung bekam er von Barbara Metz (WIP). "Wir sollten in Pullach auch behinderten Menschen die Möglichkeit geben, hier zu leben und zu bleiben", sagte sie. "Ich glaube, die WG tut auch dem ganzen Haus gut." Das könne er nur bestätigen, sagte Sack. Münchner Wohnungsbaugesellschaften hätten bei Neubauprojekten stets großes Interesse an den integrativen WGs, die als "konstitutives Element, das Leben in ein neues Quartier bringt" geschätzt würden.

Ob die integrative WG in Pullach realisiert wird, muss die Wohnungsbaugesellschaft entscheiden - vor Baubeginn, denn die Wohnform beeinflusst die Gestaltung des Erdgeschosses. Wie Bürgermeisterin Susanna Tausendfreund (Grüne) sagte, ermittelt die Gemeinde gerade mit Konstanze Riedmüller, der stellvertretenden Vorsitzenden des Vereins "Gemeinsam leben lernen", den Bedarf bei Behinderten im Ort. Bei Studierenden und Auszubildenden in der Gemeinde sei "das Potenzial sozialen Engagements sehr hoch", erklärte Tausendfreund. Interessenten werde es genug geben. Dass es in Pullach auch mögliche Mitbewohner für sie gibt, zeigte eine Wortmeldung nach Sacks Vortrag: "Wir sind Eltern eines behinderten Sohnes in Pullach, ein junger Erwachsener", sagte eine Frau, die mit ihrem Mann gekommen war: "Wir hätten großes Interesse, mit einzusteigen."

© SZ vom 24.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: