Prozess gegen John Demjanjuk:Demjanjuk: "Deutschland ist Nachfolger des Dritten Reiches"

Lesezeit: 2 min

Er ist wegen Beihilfe zum Mord an 27.900 Juden angeklagt. Jetzt beschuldigt John Demjanjuk in einem Schreiben die Richter am Landgericht München II.

Der Angeklagte schweigt. Seit einem Jahr. Seit der Prozess gegen ihn am Landgericht München II eröffnet wurde, ist von John Demjanjuk nichts zu hören. Nur einmal hat er sich schriftlich zu dem Verfahren geäußert. Das war Ende April 2010. Damals stellte er sich als Opfer dar, erhob schwere Vorwürfe gegen die deutsche Justiz, amerikanische Behörden und jüdische Organisationen.

John Demjanjuk: Dem gebürtigen Ukrainer wird Beihilfe zum Mord an Juden in 27.900 Fällen im Vernichtungslager Sobibor vorgeworfen. (Foto: dapd)

Dem gebürtigen Ukrainer wird Beihilfe zum Mord an 27.900 Juden im Vernichtungslager Sobibor vorgeworfen. Sein Fall wird vor dem Landgericht München II verhandelt. Eigentlich hätte im Prozess um den 90-Jährigen schon im Mai dieses Jahres ein Urteil fallen sollen. Doch erst vor wenigen Tagen hat das Gericht ein Dutzend zusätzlicher Termine bis in den März 2011 hinein anberaumt.

Jetzt hat sich der 90-Jährige wieder geäußert. Zum zweiten Mal wendet er sich an einer Erklärung an die Justiz. Und wieder erhebt er schwere Vorwürfe. Wörtlich heißt es in dem Schreiben, das aus dem Ukrainischen übersetzt werden musste:

"Mit der Fortsetzung dieses Verfahrens verletzen die Richter ohne jede moralische Befugnis die Prinzipien des fairen Verfahrens, der Wahrheit, der Gesetzlichkeit und des Rechtsprechungskonzeptes selbst". Seine Begründung: Deutschland sei "Nachfolger des Dritten Reiches", die Richter hätten daher keine Rechtsgrundlage.

Er beschuldigt die Richter der "Gesetzesverletzung und der Verletzung meiner Freiheit". Zudem würden sich die Richter über "israelische, amerikanische, polnische, russische und ukrainische Beweismittel" hinwegsetzen. Sie würden befürchten, "dass diese gravierenden Beweise für meine Unschuld enthalten".

Weder das Gericht noch die Staatsanwaltschaft München äußern sich zu dem eineinhalb Seiten langen Schreiben.

Dafür hat der Anwalt des Angeklagten, Ulrich Busch, sich während des Prozesses zahlreich zu Wort gemeldet. Den ersten Antrag stellte er, noch bevor Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz die Anklage verlesen konnte. Busch lehnte das Gericht wegen Befangenheit ab.

Zudem verwies er darauf, dass eine Vielzahl ranghöherer Glieder in der NS-Befehlskette in der Geschichte der BRD freigesprochen worden sei und somit auch eine Verurteilung seines Mandanten unmöglich erscheine. "Wie kann es sein, dass der Befehlsgeber unschuldig ist, der Befehlsempfänger aber schuldig?", Fragte Busch damals das Gericht. Dieser, wie eine Fülle weiterer Anträge, waren in der Folge abgelehnt worden.

Bislang sind 30 Zeugen in dem Prozess vernommen wurden. 22 von ihnen treten auch als Nebenkläger auf. Meist sind sie Geschwister, Kinder oder Enkel von Menschen, die in Sobibor ermordet wurden.

Der Angeklagte selbst folgt den manchmal spektakelartigen und bewegenden Vorgängen im Gerichtssaal regungslos von einem Spezialbett aus. Seine Augen sind bedeckt mit einer schwarzen Sonnenbrille, eine blaue Schirmmütze ist tief ins Gesicht gezogen.

Für Busch ist der Prozess "mit der Menschenwürde des Herrn Demjanjuk nicht vereinbar". Sein Mandant habe wegen einer Wirbelstenose und schweren Gichtanfällen starke Schmerzen. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand mit diesen Schmerzen noch in der Lage ist, sich in einem Prozess angemessen zu verteidigen." Aus Sicht des Anwalts ist das ganze Verfahren "eine Katastrophe für den Rechtsstaat".

Jetzt erklärte Professor Christoph Nerl, Spezialist für Bluterkrankungen und Krebsleiden am Klinikum Schwabing, dass sich der Gesundheitszustand des mutmaßlichen NS-Verbrechers in dem einjährigen Prozess nicht verschlechtert habe.

Er sei mit den bisherigen Einschränkungen, drei Stunden mit einer längeren Pause also, verhandlungsfähig, erklärte Nerl. Die Lebenserwartung des 90 Jahre alten Angeklagten sei "nicht eingeschränkter als bei anderen Menschen seines Alters".

Nerl hat den Angeklagten zu Prozessbeginn begutachtet und ihn in den vergangenen sieben Monaten 31 Mal untersucht. Es haben sich laut seinem neuen Gutachten bei dem an Blutarmut leidenden Greis "keine Anhaltspunkte für die Entwicklung einer Leukämieerkrankung oder eine andere grundsätzliche Verschlechterung ergeben".

© sueddeutsche.de/dapd-bay/dpa - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Nazi-Verbrecher
:Die Liste des Grauens

Klaas Faber lebt unbehelligt in Ingolstadt, John Demjanjuk steht in München vor Gericht: 65 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg werden noch immer NS-Verbrecher aufgespürt. Ein Überblick über wichtige Prozesse und flüchtige Nazis in Bildern.

Jetzt entdecken

Gutscheine: