Projekt "Aktiv gegen Wohnungslosigkeit":Jenseits des Tellerrands

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Engagement vor der eigenen Haustür: Bei einem Projekt der Stadt München übernehmen Bürger Patenschaften für sozial schwache Familien - und schaffen so Kontakte zwischen zwei Welten.

Felicitas Kock

Sebastian läuft über die Wiese und lacht - jemand spielt mit ihm Fußball, das kommt nicht allzu häufig vor. Auch dass er später an der frischen Luft ein Eis essen darf und man sich nach seinen Schulnoten erkundigt, ist der 10-Jährige nicht gewohnt. "Er ist in solchen Situationen richtig aufgelebt", erzählt Isabelle Schehl und umfasst mit beiden Händen ihre Kaffeetasse. Es fällt ihr nicht leicht, von Sebastian zu sprechen - von ihrem Patenkind, das sie aus Zeitgründen aufgeben musste.

Im Rahmen des städtischen Projekts "Aktiv gegen Wohnungslosigkeit" übernehmen engagierte Bürger Patenschaften für Menschen, die keine eigene Bleibe haben oder von der Wohnungslosigkeit bedroht sind. (Foto: Stephan Rumpf)

"Aktiv gegen Wohnungslosigkeit" heißt das Projekt der Stadt München, bei dem engagierte Bürger Patenschaften für andere Menschen übernehmen - für Einzelpersonen oder ganze Familien, die keine eigene Bleibe haben oder von Wohnungslosigkeit bedroht sind.

Oft helfen die Paten bei Behördengängen: Wie bekommt man Arbeitslosengeld II? Wie füllt man einen Antrag auf Wohngeld aus? Es handelt sich um Verwaltungsarbeit, die die Betroffenen alleine nicht schaffen würden. Daneben gibt es Paten, die sich um Kinder aus sozial schwachen Familien kümmern, bei den Hausaufgaben helfen, mit Lehrern sprechen oder eben Fußballspielen gehen.

60 Paten engagieren sich zurzeit im Projekt. "Viele, die bei uns mitmachen sind Rentner", sagt Carola Bamberg vom Amt für Wohnen und Migration, "am wenigsten haben wir Leute zwischen 20 und 30 Jahren und insgesamt sind mehr Frauen als Männer aktiv". Wer Pate werden will, trifft sich zunächst mit Frau Bamberg. Die Projektleiterin prüft in einem Gespräch, ob der Bewerber für eine Patenschaft geeignet ist - außerdem wird evaluiert, was sich der Pate vorstellt, wie viel Zeit er investieren kann und ob die Patenschaft auf längere Zeit ausgerichtet oder befristet sein soll.

Dann sichtet Bamberg die Fälle, die ihr von Sozialarbeitern gemeldet wurden. Es folgt ein erstes Treffen zwischen den Patenschaftsparteien, ein vorsichtiges Kennenlernen. Wenn eine Seite zweifelt, sucht Bamberg nach einer neuen Konstellation. Können sich dagegen beide Seiten eine Zusammenarbeit vorstellen, werden Telefonnummern ausgetauscht. Das nächste Treffen organisieren Paten und Familien dann allein.

Isabelle Schehl war aufgeregt, als sie vor vier Jahren nach Neuperlach fuhr, um Sebastian für einen gemeinsamen Ausflug abzuholen. Der Junge stand gemeinsam mit seiner Mutter an der U-Bahn-Station und wartete. Schehl spricht kurz mit der Frau, dann nimmt sie Sebastian mit - raus aus Neuperlach, aus der Sozialwohnung, aus dem eintönigen Familienleben, das sich bei den Eltern hauptsächlich um Fernseher und Computerspiele dreht.

Sebastian hat eine Lernschwäche. Er kommt in der Schule nicht richtig mit und wird ausgeschlossen. Auch sonst hat er nicht viel Kontakt zur Außenwelt - die Eltern haben nicht die Energie, sich um den jüngsten ihrer drei Söhne zu kümmern, ihn in den Sportverein oder eine Musikschule zu schicken. Als Schehl ihn zum ersten Mal aus Neuperlach abholt, ist der 10-Jährige zunächst verschüchtert. "Dann hat er aber schnell Vertrauen gefasst", sagt Schehl, "wir sind in den Zoo gegangen und spazieren, das war für ihn natürlich toll und das Eis ist gebrochen".

Knapp drei Jahre lang holt Schehl ihr Patenkind jeden zweiten Samstag aus Neuperlach ab. Es entwickelt sich eine vertrauensvolle Beziehung, die der Patin mitunter an die Nieren geht. "Es war hart, Sebastian abends wieder zurückbringen zu seiner Familie, die sich nicht um ihn kümmerte", sagt Schehl. Mehrfach habe sie mit ihrem Freund darüber nachgedacht, den Jungen ganz zu sich zu holen. "Aber man darf das Ganze emotional nicht zu sehr an sich heranlassen", sagt Schehl, "sonst geht man vor die Hunde".

Und so sehr es oft an den Nerven zehrte, so sehr war die Zeit als Patin auch eine Bereicherung für das eigene Leben, so Schehl. "Man merkt dann erst, wie geringfügig die Dinge sind, über die man sich sonst Sorgen macht", erklärt die 32-Jährige. Außerdem bekomme man ein realistischeres Weltbild, wenn man einmal über den eigenen Schwabinger Tellerrand hinaus in die ärmeren Wohngegenden Münchens schaue.

Ein Aspekt, den auch Carola Bamberg anspricht. "Beim Projekt 'Aktiv gegen Wohnungslosigkeit' geht es auch um Kontakt zwischen Menschen, die sonst nie etwas miteinander zu tun hätten", sagt die Projektleiterin. Die meisten zu betreuenden Familien haben einen Migrationshintergrund, sie können kaum Deutsch und die Paten stellen oft das einzige Bindeglied zur Auffanggesellschaft dar. Die Paten erhalten im Gegenzug einen Einblick in die Welt der betreuten Familien - sie nehmen eine neue Perspektive ein und lernen, ihre Werte zu hinterfragen.

Das Hauptziel des Projekts ist, dass die betreuten Personen lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Bei Sebastians Familie war das am Ende der Fall - sie galt nicht mehr als "von der Wohnungslosigkeit bedroht". Isabelle Schehl sieht das anders. Sie würde sich wünschen, dass Sebastian wieder einen Paten bekommt. Sie selbst hatte schwere Gewissensbisse, als sie nach drei Jahren die Patenschaft aufgeben musste. "Es ging einfach nicht mehr", sagt Schehl. Sie hatte wieder angefangen zu studieren und verdiente nebenher ihren Lebensunterhalt - da blieb nicht mehr genügend Zeit für ein Patenkind.

Jedem, der die Zeit hat, ob Student, Berufstätiger oder Rentner, empfiehlt sie aber, sich zu engagieren. "Man darf keine Berührungsängste haben, das stimmt schon", sagt die 32-Jährige. Dafür kann man im Rahmen des Projekts Menschen aus der Umgebung helfen, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen. Man kann neue Kontakte knüpfen und selbst etwas dazulernen. Wenn Schehl selbst wieder weniger zeitlich eingespannt ist, will sie wieder Patin werden.

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