Pflegesituation:"Wir wollen diese Whistleblower-Rolle annehmen"

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Georg Sigl-Lehner und Sonja Voss stehen der "Vereinigung der Pflegenden in Bayern" vor. Die neu gegründete Berufsvertretungmit Sitz in Oberschleißheim macht sich für die Beschäftigten stark, möchte aber auch Missstände aufdecken und abstellen

Interview von Irmengard Gnau, Oberschleißheim

Im April nimmt die "Vereinigung der Pflegenden in Bayern" offiziell ihre Arbeit auf, zunächst mit sechs Vollzeitmitarbeitern in Geschäftsräumen beim Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit in Oberschleißheim. Ende Oktober hat sich die Berufsvertretung gegründet, in Zusammenarbeit mit dem bayerischen Gesundheitsministerium. Gründungspräsident Georg Sigl-Lehner und seine Stellvertreterin Sonja Voss wollen die Belange der Menschen, die in der Pflege arbeiten, in den Fokus rücken - und die Bedingungen der Pflege in Zukunft selbst mitgestalten.

SZ: Warum hat es so lange gedauert, bis sich die Pflegenden in Bayern als Berufsgruppe zusammengeschlossen haben?

Sonja Voss: Es ist wahnsinnig schwer, die Pflegenden in den Einrichtungen zu motivieren, sich zu organisieren. Das Problem spürt man häufig in den sogenannten klassischen Frauenberufen. Vielleicht liegt das zum Teil daran, dass Frauen besonders viel um die Ohren haben mit Familie, Haushalt und Beruf. Zum Zweiten arbeiten in der Pflege viele Menschen mit Migrationshintergrund, denen oft nicht so klar ist, welche Arbeitnehmerrechte sie haben. Und drittens kommt hinzu: Die Pflegenden sind zu ausgepowert. Sie haben oft nicht die Energie, sich abends noch zu einem festen Termin in der Woche zu treffen.

Georg Sigl-Lehner: Außerdem wurde Pflege in Deutschland lange Zeit recht klein gehalten, ich glaube, das hat auch einen geschichtlichen Hintergrund. In anderen Ländern wurde die Pflege viel früher professionalisiert. In Deutschland haben die Nazis 1934 eine Reichsausbildungsordnung eingeführt und dabei festgelegt, dass die Pflege ein arztabhängiger Hilfsberuf ist - diese Unterordnung galt formal bis 1986. Andere Länder, etwa die USA, waren da schon lange bei der Akademisierung. Ich glaube, das hat sich bis heute stark eingeprägt, gerade im klinischen Bereich. Die Langzeitpflege hat sich ein Stück früher emanzipiert: Der Arzt ist Partner, da wo man ihn braucht, aber die Pflegekräfte bestimmen selbst, was zu tun ist. Ich denke, wir sind da auf einem guten Weg.

SZ: Wie viele Pflegende etwa werden Sie in Bayern vertreten?

Sigl-Lehner: Genau weiß man es nicht, aber man geht davon aus, dass es in Bayern etwa 120 000 bis 130 000 Pflegefachkräfte mit einer dreijährigen Ausbildung gibt und noch einmal etwa 80 000 Pflegefachhelfer mit einjähriger Ausbildung. All die wollen wir vertreten. Wobei die Mitgliedschaft bei uns auf Freiwilligkeit basiert: Wir sind bewusst nicht als Kammer, sondern als öffentlich-rechtliche Körperschaft organisiert. Wir haben schon etwa 1500 Interessensbekundungen für eine Mitgliedschaft.

Warum haben Sie sich für diese Form entschieden und damit gegen eine Kammer, die ja viele gefordert hatten?

Sigl-Lehner: Ich bin per se kein Gegner der Kammer, aber ich denke, dass wir uns doch von anderen Berufsgruppen unterscheiden. In anderen Kammern sind viele Selbständige, denken Sie etwa an die Architekten. Im Pflegeberuf arbeiten die meisten in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis. Auf der anderen Seite steht für mich die Frage, ob die Pflichtmitgliedschaft nicht etwas aus der Zeit gefallen ist. Wir fordern seit Jahren die Selbstbestimmtheit für unsere Bewohner und Patienten - und für die Berufsgruppe selbst würde man jetzt eine Pflichtmitgliedschaft mit Pflichtbeiträgen einführen? Das stößt bei vielen auf Ablehnung. Die Freiwilligkeit heißt für uns auch, dass wir mit Inhalten überzeugen müssen. Wir haben jetzt ein Gesetz bekommen, das aus meiner Sicht die Unabhängigkeit der Vertretung wahrt, wir fühlen uns zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner Abhängigkeit vom bayerischen Gesundheitsministerium.

Essensausgabe im Seniorenzentrum der Awo in Aying: Pflege ist ein aufreibender Beruf, der häufig in der Kritik steht. Der Verband der Pflegenden fordert nun ein Netzwerk aller Verantwortlichen in den Städten und Gemeinden und natürlich auch mehr Geld, um die Heime personell besser auszustatten. (Foto: Angelika Bardehle)

Bei der Gründung wurde aber eng mit Gesundheitsministerin Melanie Huml und ihrem Haus zusammengearbeitet.

Sigl-Lehner: Ja, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, ob Kammer oder Vereinigung, arbeitet per se eng mit staatlichen Stellen zusammen. Das geht gar nicht anders. Ich glaube, dieses große Problem der Pflege in Deutschland wird man nur mit allen Beteiligen lösen können. Dazu bedarf es klarer Forderungen unsererseits als Vertreter der Pflegenden, aber da bedarf es auch des Dialogs.

Was sind die größten Problemfelder, die Sie jetzt angehen wollen?

Sigl-Lehner: Wir wollen auf zwei Ebenen angreifen. Einmal in der direkten Pflege, wo es an allen Ecken brennt. Die derzeit gültigen Personalschlüssel, ob in der Klinik oder in der Langzeitpflege, stimmen nicht. Um eine Versorgung der pflegebedürftigen Menschen - die mehr werden! - gut leisten zu können, brauchen wir eine andere personelle Ausgestaltung.

Voss: Wenn ich mich bei mir in der Arbeit umschaue, haben wir mittlerweile einen Personalschlüssel, der so niedrig ist, dass wenn ein Kollege krank wird, die anderen einspringen müssen. Und da sind wir beileibe nicht die einzigen. Wir haben in der Pflege kaum noch regelmäßige, verlässliche Dienstpläne, weil die Stationsleitungen gar nicht mehr in der Lage sind, die so aufzustellen. Wenn dann noch jemand ausfällt, kann es passieren, dass man zwei Frühdienste hat, dann einen Spätdienst, dann wieder Frühdienst und dann noch im Nachtdienst einspringen muss.

Sigl-Lehner: Wir haben auch bis heute nicht wirklich ein Instrument, um den Pflegebedarf wissenschaftlich fundiert mit dem Personalbedarf zusammenzubringen. Bis 2020 soll solch ein Instrument jetzt für den ganzen Bund erstellt werden. Der Pflegeschlüssel momentan ist eine gegriffene Zahl, die nicht den Tatsachen des Pflegebedarfs entspricht. Auf zweiter Ebene geht es um die langfristige Perspektive, das hat sehr viel mit Professionalisierung und Merkmalen einer eigenständigen Berufsgruppe zu tun: Wir brauchen in Bayern ein Berufegesetz, eine Weiterbildungsordnung und eine Registrierung der Pflegekräfte. Diese Forderung wollen wir mit Nachdruck vorantreiben und uns dieser Aufgaben annehmen. In den vergangenen 20, 30 Jahren haben immer andere Gruppen über die Belange der Pflegenden entschieden und die Pflegenden selbst waren wenig beteiligt. Da sehen wir unsere Position, jetzt Stellung für die Pflegenden zu nehmen und die Bedingungen auch selbst zu gestalten.

Voss: Ich glaube, es ist den meisten Menschen auch gar nicht bewusst, dass wir schon an der Kante des Leistbaren stehen und dass diejenigen Kollegen, die aktuell in der Pflege arbeiten, unter diesen Bedingungen ausbrennen.

Wie lässt sich die Situation verbessern, insbesondere im Anblick des Widerspruchs, mehr Geld für Personal einzusetzen und die Pflege zugleich finanziell leistbar zu halten?

Sigl-Lehner: Ich wünsche mir bundesweite Tarifvorgaben für die Pflegeberufe. Es kann nicht sein, dass jemand, der in dieser Verantwortung am Menschen arbeitet, nicht auch entsprechend entlohnt wird. Das ist für mich eine Grundvoraussetzung. Natürlich gibt es da Widerstände, bis in die Politik, denn höhere Löhne bedeuten auch ein höheres Entgelt für jeden Pflegebedürftigen. Aber wir wollen, dass der Pflegebedürftige nicht mehr belastet wird - damit sind der Gesetzgeber und die Gesellschaft gefragt. Es kann nur über einen höheren Beitrag zur Pflegeversicherung gehen.

Deutschland gibt im Vergleich zu anderen OECD-Ländern wenig für die Pflege aus. Die Devise lautet: ambulant vor stationär.

Sigl-Lehner: Ja, wenn man beispielsweise die skandinavischen Länder nimmt, sind die staatlichen Ausgaben für Pflege dort fast doppelt so hoch wie bei uns. Aber sich nur auf die familiären Strukturen zu verlassen, wird auf Dauer nicht funktionieren.

Wen sehen Sie da konkret in der Pflicht?

Sigl-Lehner: Es muss auf allen Ebenen etwas passieren. Auch die Kommunen müssen wieder mehr in die Verantwortung genommen werden. Sie haben sich in den vergangenen Jahren immer weiter zurückgezogen. Ich spreche nicht davon, dass Kommunen wieder als Betreiber von Einrichtungen auftreten, das auf keinen Fall. Aber es geht um Sorgestrukturen, die Kommunen herstellen müssen: ein Netzwerk aus den professionell Tätigen vor Ort und Ehrenamtlichen, niederschwellige Angebote, die auf den Weg zu bringen sind. Es muss einen örtlichen Pflegekoordinator geben - da ist vieles noch am Anfang, aber auch hierin sehe ich einen Schlüssel. Und natürlich muss mehr Geld ins System.

Georg Sigl-Lehner, 52, leitet ein Alten- und Pflegeheim in Altötting. Seine Stellvertreterin Sonja Voss, 40, ist gelernte Altenpflegerin und aktuell Betriebsrätin bei der Arbeiterwohlfahrt München. (Foto: Angelika Bardehle)

Wie kann es also in Zukunft gelingen, gute Pflege zu leisten?

Sigl-Lehner:Das hat viel mit personeller Ausstattung zu tun, wie schon gesagt. Aber es hat auch mit Einstellung zu tun: Jemand, der im Pflegebereich als Träger auftritt, muss sich auch dieser Klientel verschreiben. Pflege ist für mich auch eine Art Patenschaft für den zu Pflegenden.

Wie passt das mit dem Konzept privater Trägern zusammen, die auf Gewinnmaximierung ausgerichtet sind?

Sigl-Lehner:Es ist natürlich die Frage, inwieweit dieser Bereich dazu taugt, auf der Gewinnebene zu arbeiten. Das stelle ich schon immer wieder in Frage. Die Pflege ist ein Riesenmarkt geworden - ist das legitim? Diese Frage muss man stellen.

Wenn Missstände in Pflegeeinrichtungen bekannt werden, wie zuletzt in Unterföhring oder Unterschleißheim, wird häufig kritisiert, dass Pflegemitarbeiter zurückschrecken, diese zu melden. Werden Sie als Berufsvertretung auch eine Anlaufstelle für solche Themen sein?

Sigl-Lehner:Wir wollen diese Whistleblower-Rolle annehmen. Ich denke, die Aufgabe muss es dann aber vor allem sein, in den betroffenen Einrichtungen möglichst schnell für Abhilfe zu sorgen. Ich denke, da können wir als Berufsvereinigung eine wichtige Vermittlerposition einnehmen. Aber dort, wo Menschen in Gefahr sind und gegen Gesetze in verbrecherischer Art und Weise verstoßen wird, werden wir umgehend die zuständigen Behörden einschalten.

Voss: Ein Aspekt kommt aus meiner Sicht noch hinzu: In allen sozialen Berufen gibt es das Phänomen des Cool-outs - durch Überlastung und Überarbeitung geht die Sensibilität für das Klientel verloren. Ich glaube, dass da unter den Pflegenden auch wieder eine Sensibilisierung stattfinden muss - auch für die eigenen Bedürfnisse und die eigene Leistungsfähigkeit. Andererseits wünsche ich mir auch, dass die Bevölkerung bei Vorfällen nicht nur mit dem Finger auf die Pflegenden zeigt, sondern auch einmal fragt: Wo kommt denn das her?

© SZ vom 11.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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