Ottobrunn:Schüler schlüpfen in die Rolle der Fremden

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Eine interaktive Ausstellung soll zeigen, wie sich Neuankömmlinge in München fühlen. Gestaltet haben sie Geflüchtete

Von Antonia Dieterle, Ottobrunn

Eine Schülergruppe steht in der Aula des Gymnasiums Ottobrunn vor einem MVV-Netzplan und sucht konzentriert eine Route. Nicht ganz einfach, denn die Stationen sind auf Arabisch beschriftet. Die Schüler sollen so erleben, wie es sich anfühlt, in einem fremden Land anzukommen. Die interaktive Ausstellung "Land der Kulturen" ist ein Projekt von jungen Menschen mit Fluchterfahrung. Auf spielerische Art erfahren die Besucher entlang eines Parcours die Herausforderungen und Alltagsprobleme, denen sich Geflüchtete stellen müssen. Nadja Maki, Gründerin von "Wir-Werk", hat es ins Leben gerufen und steht mit zwei jungen Männern vor der Schulkasse. Maki ist keine Unbekannte am Ottobrunner Gymnasium, sie hat dort im Jahr 2000 ihr Abitur gemacht.

In der Aula wird es ruhig, man hört nur noch das Rascheln der kleinen Notizzettel, die sich Louay Sakr und Abdul Baset Achrafi für ihre kurze Vorstellung geschrieben haben. "Ich bin Louay", sagt der junge Syrer laut und lächelt dabei offen in das Publikum. Vor zwei Jahren ist Sakr aus Syrien nach Deutschland geflohen. In seinem Heimatland studierte er Wirtschaft, heute lernt er deutsche Vokabeln. Neben ihm steht Abdul Baset Achrafi und man spürt seine Nervosität. Auch er hat eine Flucht erlebt: Von Aleppo ist er über die Türkei nach Deutschland geflohen.

Maki, die gemeinsam mit Sakr und Achrafi "Land der Kulturen" als erste große Ausstellung umsetzt, wendet sich mit einer Geschichte aus dem Alltag an die Schüler. Es geht dabei um Berührungsängste, Furcht vor Unbekanntem und vorurteilsbelastete Bilder. Es fällt der Begriff Alltagsrassismus. Abdul Baset Achrafi und Louay Sakr wissen genau, was damit gemeint ist. Sakr begegnet in seinem Alltag Menschen, die sagen: "Sie sind Flüchtling? Aber sie sehen nicht so aus" - er lächelt, als er den Schülern davon erzählt.

Nadja Maki, die sich neben ihrer Tätigkeit im "Wir-Werk" beim Münchner Arbeiter-Samariter-Bund um die Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge in der Meindlstraße am Münchner Harras kümmert, kennt Geschichten und Schicksale wie die von Abdul Baset Achrafi und Louay Sakr sehr gut. Im Mai 2017 gründete sie das "Wir-Werk" als Gesellschaft für die Stärkung der internationalen Toleranz und der Förderung benachteiligter Menschen. Vor einem Jahr begannen die Vorbereitungen für das interaktive Projekt "Land der Kulturen".

Gruppen von fünf bis sechs Schülern tummeln sich vor den insgesamt sieben Stationen des Parcours der interaktiven Ausstellung. Die Herausforderungen, die dort sowohl analog, als auch digital auf Tablets gezeigt werden, stammen aus dem Alltag von Geflüchteten. Die Schüler müssen sich an den Stationen in einem fremden Kalendersystem zurechtfinden, einfache arabische Schriftzeichen und Sätze einprägen, mit fremden Zahlen rechnen, ein arabisches Formular ausfüllen und entscheiden, was sie bei einer plötzlichen Flucht mitnehmen müssen. Amal Zankalo, die ihren fünf Monate alten Sohn Emad im Arm hält, erzählt, welche Schwierigkeiten sie anfangs mit dem deutschen Alphabet hatte. Sakr stimmt zu und verrät wie er zu Beginn Fahrpläne entzifferte: "Ich habe immer nur die Stationen gezählt."

Zankalo gibt ihren Sohn Emad in die Arme von Nadja Maki. Amal Zankalos Mann Mohamed Jalkhi steht neben der Initiatorin des Projekts. "Wir sind gute Freunde", sagt Maki und erzählt, wie Mohamed Jalkhi manchmal für sie und andere kocht. Auf die Frage, in welcher Rolle sie sich gegenüber diesen jungen Menschen sieht, antwortet Nadja Maki: "Ich bin eine Befähigerin." Vor allem wünsche sie sich, dass auch andere Leute in ihrem Umfeld Menschen wie Zankalos, Jalkhi, Sakr und Achrafi kennenlernten. Auch Thomas Fischer, Projektpartner für die Ausstellung und Fachbetreuer für den Bereich Religion am Gymnasium Ottobrunn, will diese Thematik seinen Schülern näher bringen. Der Lerngewinn sei enorm, berichtet Fischer und freut sich über das große Interesse der Schüler an der interaktiven Ausstellung. Er beobachtet, wie seine Schulkasse die Postkarten mit Fragen und Antworten mustern. Auf einer Karte beantwortet ein Schüler die Frage "Hast du Angst vor Flüchtlingen?" mit "Ja ein bisschen". Auch Thomas Fischer bedauert, dass es noch zu wenige Kontakte zwischen geflüchteten Kindern und Jugendlichen und den Schülern des Ottobrunner Gymnasiums gebe.

Sakr und Achrafi erklären den Schülern die unterschiedlichen Stationen; immer wieder entstehen dabei kurze, aber auch längere Gespräche. Für Abdul Baset Achrafi sind dies Glücksmomente. Zwar habe er durch den Sprachunterricht viele neue Freunde gefunden, erzählt er, doch er betont den Stellenwert, den das Projekt für ihn hat: "Ich habe hier allein in zwei Wochen mehr Gespräche geführt als in den letzten zwei Jahren."

Nadja Maki ist stolz auf ihre Freunde und freut sich auf weitere Stationen der Wanderausstellung an Gymnasien im Landkreis: Von Ottobrunn geht es am 11. Juli weiter an die Mittelschule in Unterhaching, Die Mittelschule in Garching übernimmt zum 16. Juli und die in Höhenkirchen-Siegertsbrunn zeigt die Ausstellung am 18. Juli.

© SZ vom 05.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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