Ottobrunn:Das Glück, überlebt zu haben

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Vor Ottobrunner Gymnasiasten erzählt der Norweger Haakon Sörbeye von seiner Haft im KZ-Außenlager Ottobrunn. In seiner Erinnerung war es noch die am wenigsten schlimme Etappe seiner Gefangenschaft

Von Christina Jackson, Ottobrunn

Haakon Sörbeye hat 50 Jahre gewartet, bevor er seiner Familie zum ersten Mal von den deutschen Konzentrationslagern erzählte. "Es waren erst nur die erträglichen Episoden", sagt seine 36-jährige Enkelin Ingrid Wergeland. Am Samstag sprach Sörbeye in ihrer Begleitung auch von den grausamen Reminiszenzen an das KZ Dachau, Natzweiler im Elsass und das Außenlager Ottobrunn. In unmittelbarer Nähe zum Mahnmal, das in Ottobrunn an die Zwangsarbeiter der Nazis erinnert, berichtete Sörbeye - 70 Jahre nach Kriegsende - vor Schülern vom Überleben inmitten der Barbarei. Zweimal erkrankte er an Typhus, zweimal behielt er den Lebensmut.

Den Ottobrunner Gymnasiasten, die mit ihrer Lehrerin Elisabeth Plank zu dem Zeitzeugen-Treffen gekommen waren, begegnet an diesem grauen Mai-Samstag ein Mann, der geduldig und mit bewundernswerter Ruhe über seine Vergangenheit spricht. Trotz oder vielleicht gerade weil dieser Rückblick schmerzt, erzählt er die Episoden aus dem Lager oft mit einem Blick, der die Barbarei in den Hintergrund rückt. Die Schüler haben ein Foto mitgebracht, das sie Sörbeye mit der Bitte um Erklärung zeigen. Auf dem Bild sind schwarze Handschuhe zu sehen. Sörbeye schaut kurz auf den Ausdruck. Dann lacht er. "Das sind die Strümpfe von meinem Kameraden im Gefangenenlager. Ich habe daraus Handschuhe gestrickt." Selbst seine Mutter sei von der Arbeit beeindruckt gewesen.

Zeitzeuge: 70 Jahre nach Kriegsende erinnert Haakon Sörbeye bei einem Treffen mit Schülern an Ort und Stelle an das damalige KZ-Außenlager. (Foto: Angelika Bardehle)

Als 20-Jähriger ging der junge Elektrotechnik-Student in den norwegischen Widerstand. Er funkte geheime Informationen nach England und wurde von den Deutschen gefangen genommen. Seine erste Station in einem Konzentrationslager war zugleich die schlimmste. "In Natzweiler waren 500 Norweger. Nur etwa die Hälfte hat überlebt." Insgesamt starben dort rund 22 000 Häftlinge. "Das Lager im Elsass lag in 700 Meter Höhe, es war unter extremen Bedingungen erbaut worden. Kälte, Mangelernährung und Krankheit machten uns zu schaffen", erinnert sich Sörbeye. Kaum ein Gefangener wog über 50 Kilogramm.

Danach kam Dachau. Auch dort prägten Hunger, Tod und Krankheiten den Alltag. "Im Vergleich dazu war Ottobrunn deutlich besser." Mit einem Russen teilte er sich dort eine Schlafeinheit. Die Häftlinge mussten für die Rüstungsindustrie arbeiten, aber sie bekamen immerhin Essen. Wie eine tägliche Ration dort aussah, daran kann sich der heute 95-Jährige nicht mehr erinnern. Nur so viel: "Mein Gewicht ist in Ottobrunn gestiegen."

Mit dem Mithäftling verstand er sich gut. Durch ihn lernte er Russisch, brachte diesem wiederum selbst Englisch bei. Außerdem habe es in Ottobrunn "kein Geschrei" gegeben. "Die Aufseher hielten sich zurück." Von September 1944 bis Januar 1945 blieb Sörbeye in Ottobrunn. Die Zeit dort erlebte er im Vergleich zu den Lagern Dachau und Natzweiler fast sogar positiv, sodass er im Rückblick beinahe scherzt: "In Ottobrunn hätte ich eigentlich bleiben können".

Mahnmal in Dachau. (Foto: Claus Schunk)

Wenige Monate nach seiner Rückkehr nach Dachau und noch vor der Befreiung durch die Amerikaner kam Rettung für die norwegischen Gefangenen: Sogenannte Weiße Busse, weiß gestrichene und mit Rot-Kreuz-Zeichen markierte Fahrzeuge, brachten alle norwegischen Staatsbürger aus dem Lager. Die Rettungsaktion hatte Folke Bernadotte ermöglicht. Der Vize-Präsident des schwedischen Roten Kreuzes setzte diese Vereinbarung in Verhandlungen mit SS-Brigadeführer Walter Schellenberg und SS-Reichsführer Heinrich Himmler durch. Sörbeye: "Am 3. Mai 1945 war ich zurück in Stockholm, am 20. Juni habe ich meine Familie wiedergesehen."

Kurze Zeit nachdem er seinem ältesten Sohn bei einem Skiausflug von der Vergangenheit in den Konzentrationslagern erzählte, begann Sörbeye auch, vor Schulklassen zu reden. 2005 war er zum ersten Mal wieder in Ottobrunn. Wenn er heute durch die Straßen der Gemeinde läuft, dann spricht er nicht von Hass, sondern von dem großen Glück, dass er damals gehabt habe. Davon, dass er überlebt hat.

© SZ vom 04.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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