NS-Zeit:Der Mann, der Hitlerjunge Salomon war

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Im Gespräch mit Realschülern: Zeitzeuge Sally Perel bei seinem Besuch in Unterschleißheim. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Autor Sally Perel erzählt Unterschleißheimer Schülern von seinem Doppelleben als Jude und Nazi

Von Valérie Nowak, Unterschleißheim

"Jahrelang lebte ich versteckt unter der Haut des Todfeinds, als kleiner, hoffender, jüdischer Junge", beginnt Sally Perel von seiner einzigartigen Lebensgeschichte zu erzählen. Der 93-jährige Jude hat den Holocaust überlebt, indem er der Hitlerjugend beitrat. Sein Doppelleben als "Hitlerjunge Salomon" hat er als Buch niedergeschrieben, das später verfilmt wurde. Seine Geschichte ist einzigartig, denn er war Opfer und Täter des Nationalsozialismus zugleich: Jude und Nazi, um zu überleben.

Um seinen Hals hängt ein roter Schal, er sieht etwas blass aus, hustet immer wieder, als er am Donnerstagmittag vor Schülern der Therese-Giehse-Realschule in Unterschleißheim spricht. Vor etwas mehr als einer Woche ist er aus Israel in seine Heimat Deutschland geflogen, "in die Kälte", wie er sagt. Trotz Erkältung und der Tatsache, dass der Zeitzeuge, der hier über seine Geschichte spricht, im April 94 Jahre alt wird, ist sein Wille ungebrochen, den Schülern etwas mitzugeben. Seit Jahren reist er durch Deutschland und besucht Schulen.

"Du sollst leben", waren die drei letzten Worte seiner Mutter an ihn. "Bleibe immer Jude", sagte ihm sein strenggläubiger Vater, der Rabbiner war. Seine Eltern flohen mit ihm von Deutschland nach Polen, dann schickten sie ihn nach Minsk. Als ihn später ein SS-Soldat fragte, ob er Jude sei, hörte er im Inneren die Stimme seiner Mutter. "Nein, ich bin Volksdeutscher", antwortete er. "Diese Lüge machte mich Monate später zu einem glühenden Hitlerjungen", sagt Perel. So begann sein Doppelleben als "Josef Perjell". Er vergrub seine Ausweispapiere, um nicht erkannt zu werden.

Zwei Jahre dolmetschte er für die Wehrmacht, begleitete sie bis nach Moskau. Danach kam er ins Hitlerjugendinternat nach Braunschweig und wurde begeisterter Anhänger des Regimes: "Wie Gift ist das reingetropft, und es begann zu wirken", erzählt Perel von der Indoktrinierung in der Hitlerjugend. Die Vorstellung, zu einem ausgewählten Volk zu gehören, habe sein Ego gepusht: "Ich war nicht nur als Hitlerjunge verkleidet, ich war mit der Ideologie infiziert." So wurde aus dem Juden Salomon der begeisterte Hitlerjunge "Jupp", wie ihn andere Soldaten liebevoll nannten.

"Ich dachte, ich gehöre einer Macht an, die die Welt erobert", erzählt er von dem "Siegesrausch", der damals viele ergriffen habe. Ob er sich nicht mitschuldig gemacht habe, hat ihn ein Schüler in Israel gefragt. "Ich habe mich ja nicht freiwillig gemeldet, das Schicksal trieb mich gegen meinen Willen in die Naziwelt hinein", erzählt er den Schülern von seiner Reaktion. Den Drang zu leben, den habe jeder - genau so wie jeder ein Recht auf Leben habe.

"Jetzt bin ich wieder hier, als freier Mensch", sagt Perel. Die Jugend sei naiv, leichtgläubig, nehme ein politisches System so an, wie es ist. Die Nazis hätten genau das ausgenutzt. Deswegen ist es Perel auch so ein großes Anliegen, mit den Schülern zu sprechen: um sie für Ideologisierung und Propaganda zu immunisieren, sie zu einem kritischen Denken zu führen. Damit sie es einmal anders machen als er.

Denn selbst ihn als Juden konnten die Nazis nach und nach für ihre Sache begeistern, außer für die Ermordung der Juden. Bis heute kämpften in ihm zwei Seelen, die des Hitlerjungen "Jupp" gegen "Sally" Salomon.

"Unter den Naziuniformen steckten keine Monster, sondern normale Menschen, die aber zu solchen Verbrechen fähig waren", sagt Perel. Das alles sei durch Hass möglich geworden, Hass, der gezielt durch Propaganda des Regimes geschürt worden war. "Diese Parteien, die jetzt wieder so massiv gewählt werden, haben diesen Hass übernommen", zieht Perel Parallelen zwischen heute und damals. Die Schüler sollten an ihm als ein lebendiges Geschichtsbeispiel lernen und in der Zukunft anders handeln.

"Auschwitz ist das Symbol der schlimmsten Tragödie der Menschheit, wir können es nicht wie Staub vom Mantel streichen", sagt Perel. Als er selbst Auschwitz besuchte, hinterließ das bei ihm Spuren: Er sah die aufgestapelten Kinderschuhe, neben ihnen lagen sogar noch die Haarlocken. Alles von Kindern, die in Auschwitz umgebracht wurden. In der KZ-Gedenkstätte fasste der Mann, der Hitlerjunge Salomon war, einen Entschluss: "Solange mich meine Schuhe tragen, setze ich mich ein, dass so etwas nie wieder passiert", sagt Sally Perel.

© SZ vom 22.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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