Nachhilfe mit Herz und Hirn:Seelentröster und Rechtschreiblehrer

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Jeder, der die Lernwerkstatt in Taufkirchen besucht, bekommt einen persönlichen Lernbegleiter, der mit ihm übt. (Foto: Claus Schunk)

Das Mehrgenerationenhaus in Taufkirchen bietet eine kostenlose Lernwerkstatt für Menschen, die unzureichend schreiben und lesen können. Es werden noch Lernbegleiter gesucht

Von Marie Hesslinger, Taufkirchen

In dem hellen Raum im Mehrgenerationenhaus sitzen sechs Menschen in Zweiergrüppchen zusammen. An einem Tisch liest ein Mann einer Frau laut aus einem Buch vor, an einem anderen Tisch beugen sich zwei Frauen leise über eine Schreibaufgabe. Zwei weitere Frauen füllen kichernd einen Lückentext aus. Michael Mrva steht in der Mitte. "Schauen Sie sich mal um, das ist Coaching in Reinkultur", lobt er.

In Deutschland leben 6,2 Millionen Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können. Mrva schätzt, dass es im Landkreis München um die 7000 sein müssen. Deshalb hat er, zusammen mit Andrea Schatz, Geschäftsführerin der Nachbarschaftshilfe, eine kostenlose "Lernwerkstatt" ins Leben gerufen. Sie bewarben sich beim Bund um Zuschüsse für ihr Alphabetisierungsprojekt und erarbeiteten ein Lernkonzept, motivierten Ehrenamtliche und engagierten einen Coach.

Als das Projekt im Januar startete, kamen zunächst keine Teilnehmer. Mrva, die sechs ehrenamtlichen Lernbegleiter und ihr Coach blieben unter sich. In der dritten Woche standen zwei Frauen vor dem Eingang des Mehrgenerationenhauses. "Sie haben sich nicht reingetraut", erinnert sich Mrva. Der 71-Jährige mit Hosenträgern und randloser Brille hat eine warmherzige, gewinnende Ausstrahlung. Er ging auf die Frauen zu und sagte: "Ihr seid hier richtig. Hier gibt es keine Noten, keine Prüfungen. Kommt rein."

Eine der beiden Frauen war Linh Le (Name geändert). Heute, 14 Wochen später, liest sie aus ihrem Lückentext vor: "Wenn man Glück im Spiel hat, hat man Pech in der Liebe." Sie und ihre Lernbegleiterin schauen sich an und lachen. Le sagt: "Ich finde es schön hier. Alle Leute sind ganz freundlich und nett." Auch den zeitlichen Rahmen, Freitagnachmittag von 16 bis 18 Uhr, findet sie gut: "Du hast den Kindern Essen gekocht, ein Mittagsschläfchen gemacht, am nächsten Tag ist frei", sagt die Bäckereiangestellte lachend. Vor 14 Jahren kam sie von Vietnam nach Deutschland.

Die Gründe, aus denen Menschen nicht gut lesen und schreiben können, sind vielfältig. "Viele rutschen in der Schule einfach durch", sagt Mrva. "Und einige verlernen es nach der Schule wieder", ergänzt Schatz. In die offene Lernwerkstatt kommen bislang vor allem Menschen mit Migrationshintergrund. "Dabei gibt es eigentlich mehr Muttersprachler, die nicht schreiben können", sagt Schatz. Sie vermutet, dass bei Deutschen die Hürde noch größer ist, zuzugeben, dass sie nicht lesen und schreiben können. Ein wichtiger Aspekt ist deshalb die "Niedrigschwelligkeit" des Projekts: Es bedarf keiner verbindlichen Anmeldung, keines Formulares, man kann kommen und gehen wie man möchte. Kinder können währenddessen die Kinderbetreuung des Hauses besuchen. Mrva ist es wichtig zu betonen, dass die Lernbegleiter dafür da sind, den Lernenden zuzuhören, wenn sie Sorgen haben. Schatz stimmt ihm zu: "Hier wird nicht nur gelernt, hier werden auch Seelen getröstet."

Das von ihnen erarbeitete Alphabetisierungsprojekt sieht zunächst eine Kurzdiagnostik der vorhandenen Lese- und Schreibfähigkeiten vor. Anhand dieser Einstufung führen die geschulten Ehrenamtlichen durch ein Lernprogramm mit dem Namen "Buchstäblich fit". Das Besondere an ihrem Projekt: Jeder Lernbegleiter kümmert sich persönlich um einen Lernenden.

Ebenso wenig wie die Lernenden sollen sich auch die Lernbegleiter nicht verpflichtet fühlen, jeden Freitag zu kommen. Aber die Zahl der Menschen, die in der Lernwerkstatt lesen und schreiben lernen wollen, ist seit Januar recht schnell auf sieben gestiegen. Es gibt jetzt mehr Lernende als Ehrenamtliche. "Wir suchen händeringend zusätzliche Lernbegleiter", sagt Mrva.

Um Menschen mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten und ihr Umfeld auf das Projekt aufmerksam zu machen, fährt am Dienstagmittag, 25. Juni, ein "ALFA-Mobil" auf den Wochenmarkt in Taufkirchen vor. Mitarbeiter des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung klären darin über Analphabetismus auf. Am darauffolgenden Tag lädt das Mehrgenerationenhaus zu Workshops ein. Diese sollen Geschäftsführer, Sozialarbeiter und andere Menschen, die beruflich in Kontakt mit Analphabeten kommen könnten, für das Thema sensibilisieren.

Le und ihre Lernbegleiterin Britta Seufert sind nun fertig mit dem Lückentext. Le zeigt der Personalerin ein Video eines vietnamesischen Wassertheaters. Seufert, so wirkt es, ist gerne ehrenamtliche Lernbegleiterin. "Mir macht es Spaß, etwas weiterzugeben", sagt sie, "Das hier ist etwas Sinnvolles." Mrva geht es genauso: "Ich bin irgendwann in Rente gegangen und dachte: Jetzt brauche ich etwas Sinnvolles", sagt der studierte Mathematiker. Er fügt hinzu: "Im Vergleich zu meinem Beruf gehe ich hier am Abend heim und denke: Mensch, heute war ein toller Tag."

© SZ vom 31.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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