Mitten in Unterhaching:Sprache als Geheimcode

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Wer es wagt, die Geheimnisse seines Körpers entschlüsseln zu wollen, stößt manches Mal an Grenzen. Franziska Lachner schafft hier Abhilfe.

Von Claudia Wessel

Diagnose: Otitis media acuta mit Begleitmastoiditis links. Therapie: antibiotische Therapie mit Amoxicillin / Clavulansäure (Augmentan), abschwellende Nasentropfen, Inhalationen. Procedere: Wiedervorstellung zur Kontrolle in vierzehn Tagen; Re-Adenotomie, Tonsillektomie und Paukendrainage beidseits für Mai 2017 vorgesehen." Kriegt der Patient mal den sogenannten Arztbrief zu sehen, den der eine Behandler für den anderen geschrieben hat, so stürzt er sich meist wissbegierig darauf, um die Geheimnisse zu erfahren, die im eigenen Körper vorgehen.

Es ergeht einem dann wie jemandem, der versucht, ein anglistisches literarisches Werk mit Hilfe des schwachen Schulenglischs zu lesen. Man versteht hier und da tatsächlich etwas, zwischendurch glaubt man, etwas zu verstehen und über lange Strecken reimt man sich einfach etwas zusammen, bis man schließlich im Internet die Begriffe nachschaut. Fragt man dann aber beim nächsten Arzttermin: Was ist denn mit der Re-Adenotomie?, erntet man einen Blick von so weit oben herab, dass zu den vorhandenen Symptomen noch Meningismus (Nackenstarre) kommen kann. Ähnlich kann es einem ergehen, wenn man zur Behördensprechstunde geht, um von der Sachbearbeiterin zu erfahren, was es mit der Eingriffsermächtigung und dem Gelegenheitsverkehr auf sich hat, die im letzten Schreiben vom Amt erwähnt wurden. Oder bei der Rentenversicherung, wenn man nachfragt, was es bedeutet, dass "zum 1. Januar jedes Jahres die sogenannten Rechengrößen der Sozialversicherung neu festgelegt" werden.

Die Herrscher über die Geheimsprachen in dieser Gesellschaft sind eben sehr darauf bedacht, dass kein primitiver Laie sich erdreistet, in ihrer Begriffswelt zu wildern, womöglich gar versucht, diese Sprache zu erlernen, um sich darin zu unterhalten. Doch Franziska Lachner vom "Haus der Beratung" des Vereins Integra in Unterhaching ruft jetzt auf zur Revolution. Sie hat sich schlau gemacht und kann die Sprachgeheimnisse von Behörden, Versicherungen oder Ärzten entziffern. Mit verschlüsselten Schreiben aller Art kann man in ihre Sprechstunde kommen (Anmeldung unter Telefon 089/219 629 74) und diese werden übersetzt. Man erfährt dann etwa, dass man neben der akuten Mittelohrentzündung auch eine eitrige Entzündung des Schädelknochens hinter dem Ohr hat und dass im Mai die nachgewachsene Rachenmandel erneut entfernt wird. Mit einer derart primitiven Ausdrucksweise kann sich natürlich kein Arzt an einen Kollegen wenden. Wozu haben sie schließlich studiert?

© SZ vom 04.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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