Lyrik aus Sauerlach:Überraschend und brutal wie eine Pflanze

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Geboren in St. Petersburg ist Slata Roschal mit fünf Jahren nach Deutschland gekommen und seither oft umgezogen. Jetzt lebt die 28-Jährige, der die Vorstellung von einer dauerhaften, lebenslangen Heimat eher fremd ist, in Sauerlach - und arbeitet dort an ihrem zweiten Lyrikband. (Foto: Angelika Bardehle)

Die in Sauerlach lebende Dichterin Slata Roschal erhält vom bayerischen Kultusministerium ein Arbeitsstipendium. In ihren nüchtern-geheimnisvollen und atmosphärisch dichten Texten entfaltet die 28-Jährige einen ganz eigenwilligen Zauber

Von Christina Hertel, Sauerlach

Seltsam sei das, so ein Interview im eigenen Zuhause, sagt Slata Roschal, als man sich schon fast verabschiedet hat, zwischen Flur und Wohnungstür in Sauerlach. Die 28-Jährige hat vor kurzem vom bayerischen Kultusministerium ein Arbeitsstipendium verliehen bekommen. Es soll ihren zweiten Lyrikband finanzieren und weil sie von den sechs Stipendiaten die einzige aus dem Landkreis München ist, die die 7000 Euro des Freistaats erhält, schauen an diesem Nachmittag eine Journalstin und eine Fotografin von der Zeitung vorbei. "Ich habe mich gefragt, ob meine Wohnung wohl so aussieht, wie man sie sich für einen Schriftsteller vorstellt", sagt sie.

Ziemlich viele Bücher stehen da schon mal. Irmgard Keun, Franz Kafka, Fjodor Dostojewski, Max Czollek, die großen Namen zwischen den kleinen. Slata Roschal trinkt Tee, an der Wand hängt ein Theaterprogramm. Klischee erfüllt. Doch, das spürt man während des Gesprächs deutlich, will sich Slata Roschal mit ihrer Geschichte nicht gerne in eine knackige Überschrift pressen lassen, nicht allzu viel Persönliches über sich preisgeben.

Slata Roschal ist in Sankt Petersburg geboren, zog mit fünf Jahren von Russland nach Deutschland, wuchs zweisprachig auf. "In Russland war ich eher die Deutsche, in Deutschland eher die Russin. Doch eigentlich trifft nichts von beidem auf mich zu." Heute ist sie Literaturwissenschaftlerin, promoviert an der Ludwig-Maximilian-Universität München und weiß als solche, dass man das Werk eines Autors niemals durch seine Biografie deuten sollte. "Ein Text ist wie eine Pflanze", sagt sie. "Unkontrollierbar, geheimnisvoll und manchmal überrascht er einen selbst."

Roschal schlägt Seite 14 in ihrem Lyrikband auf. Das Gedicht hat keinen Titel könnte aber "Auf dem Gynäkologischen Stuhl" heißen, denn es besteht aus einer Aneinanderreihung von Sätzen, die so nur beim Frauenarzt fallen ("Wie verhüten Sie? Machen wir mal einen Abstrich. So eine schöne Gebärmutter.") "Ich hätte nicht erwartet, dass ich so etwas mal öffentlich vorlesen könnte." Das Gedicht ist in ihrem ersten Prosa- und Lyrikband "Wir verzichten auf das gelobte Land" erschienen. Sie beschreibt darin Zugfahrt, Museumsbesuch, Umzug - vermeintliche Banalitäten, die jedoch Brutalität entfalten, und zwar nicht nur, wenn es explizit um Gewalt geht. In einem Text stellt sich eine Mieterin vor, wie sie mit einer Axt den Schädel ihrer Vermieterin zertrümmert. In einem anderen zerfetzt ein Monster, ein Hund von Baskerville, das Gesicht der Erzählerin.

Doch fast noch schmerzhafter ist, wenn Roschal die Ignoranz der Gesellschaft offenlegt. Alle sitzen in einem Zug Richtung Berge, doch niemand spricht über die Natur, sondern über Gesichtscreme. Der Selbstmord geschieht zwischen Urlaubsplanung und Kartoffelkochen. Eine Frau möchte einem Priester beichten, dass sie ihren Mann heute morgen alleine unter der Dusche betrogen hat, doch der hört gar nicht hin. Gleichzeitig hat der Leser das Gefühl, im Kopf einer Erzählerin zu stecken - weil Slata Roschal Gedanken so aufschreibt, wie Menschen eben denken. Wie ähnlich einem die eigene Mutter ist, steht neben der Überlegung, wie man Rucola kauen könnte, damit er nicht in den Zähnen stecken bleibt. Ihre Sprache ist dabei immer nüchtern und wahrscheinlich überwältigen einen die Worte gerade deshalb so sehr, weil keines davon zu viel ist. "Orientierung suchen die Gedichte auch im uns umgebenden verwirrenden Sprachgewirr des Alltags und der Werbung. Durch viele Verweise entstehen so offene, zugleich atmosphärisch dichte und klangschöne Texte", heißt es in der Jurybegründung für die Stipendienvergabe.

Deutsch musste Roschal als Kind erst lernen. "Vielleicht betrachte ich deshalb Sprache als etwas weniger Selbstverständliches." Sprache präge das Denken, sagt Roschal. Wer sich auf kein Muster zu denken festlegt, hat einen weiteren Blick. Und vielleicht lehnt sie die Idee, eine Heimat zu haben, in der man es sich bequem einrichtet, deshalb ab - weil einen zu viel Heimeligkeit und Geborgenheit einengen würde.

Im neuen Gedichtband, an dem Slata Roschal gerade arbeitet, geht es auch um die Frage, wohin man heute stolz und voll Entdeckergeist fliehen könnte - so wie die Menschen, die im 19. Jahrhundert nach Amerika auswanderten. Gibt es so ein Land, so einen Sehnsuchtsort heute noch? Und ist die Welt nicht ohnehin durch das Internet klein geworden, wenn wir alle immer und überall erreichbar sind? In den vergangenen zehn Jahren sei sie sechsmal umgezogen, mit Mann und Kind. In ihren Gedichten nimmt Roschal viele dieser Orte wieder auf. Leipzig beschreibt sie als eine Stadt, die sie austrinken wollte mit all den Geschäften, Plakaten, Sushi-Läden, und die schließlich sie verschlang.

Das Gedicht über Sauerlach klingt, als würde man ein Amtsblatt voller Verordnungen lesen. "Eltern haften für ihre Kinder" lautet eine Zeile. "Duldungspflicht bei baulichen Maßnahmen" eine andere. Sie wolle wieder weg von hier, erklärt Roschal, lieber in München leben. Das Zurückhaltende, das Kühle der Stadt gefalle ihr. So wie ihr auch die Anonymität eines Mietshauses gefalle. Slata Roschal lebt im Dachgeschoss. Sie kann runterschauen, aber niemand zu ihr hoch.

© SZ vom 02.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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