Lesung:Anne Frank als Familiengeschichte

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Die Schauspielerin Sunnyi Melles präsentiert mit ihren Kindern Leonille und Constantin Wittgenstein am Montag in Garching die Graphic Novel von Ari Folman und David Polonsky, die auf dem Tagebuch des von den Nazis ermordeten Mädchens basiert

Von Gudrun Passarge, Garching

Die Lesung aus dem "Anne-Frank-Graphic-Diary" ist eine Herzensangelegenheit für Sunnyi Melles und es ist ein Familienprojekt. Denn die Schauspielerin wird am Montag in Garching zusammen mit ihrer Tochter Leonille Wittgenstein aus dem Comic lesen, ihr Sohn Constantin Wittgenstein steuert die Musikbegleitung bei. Für sie sei das Tagebuch viel mehr als nur die Geschichte der Anne Frank, des Mädchens, das mit 15 Jahren im KZ Bergen-Belsen starb. Anne Frank stehe stellvertretend dafür, wie Kinder die NS-Zeit erlebt hätten und wie sie gestorben sind. "Das geht jeden was an, ob das in Syrien passiert oder anderswo", sagt die 61-Jährige, die mit Peter Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Sayn verheiratet ist. Durch die Vorstellung kämen die Zuschauer in den Kosmos dieses Mädchens, "es ist wie ein denkendes Inhalieren", beschreibt sie die Vorstellung.

Die Schauspielerin kommt mit Krücken in das Direktorat des Werner-Heisenberg-Gymnasiums gehumpelt. Sehr schlank, ganz in Schwarz gekleidet wirkt sie fast zerbrechlich, aber sie ist ein Energiebündel, das vor Ideen nur so sprüht. Schnell hat sie Direktor Armin Eifertinger und Schülerin Sinja Habbe (17) in eine lebhafte Diskussion verwickelt. Ihr Antrieb, sich mit Anne Franks Geschichte zu befassen, ist kurz geschildert: Vater Carl Melles, ein bekannter ungarischer Dirigent, der konvertierte, um seine Mutter aus Ungarn zu retten, bekannte sich danach wieder zum jüdischen Glauben; die Mutter war katholisch, sie floh 1956 aus politischen Gründen aus Ungarn. Melles ist in der Schweiz aufgewachsen. 15 Jahre waren die Mutter, ihr Bruder und sie staatenlos, ohne Pass. Die Emigration habe sie geprägt, sagt Melles.

In Basel lernte sie mit sieben Jahren Buddy Elias kennen, den Cousin Anne Franks, in dessen Haus später auch Annes Vater Otto Frank eine Zeitlang gelebt hat. Melles ist gut vorbereitet, sie zieht eine CD aus ihrer Tasche mit einem Film. Er erzählt vom Leben des Cousins, der mit seiner Familie nach 1931 in der Schweiz wohnte und dort als Schauspieler und einige Jahre auch als Clown bei "Holiday on Ice" arbeitete. In der Dokumentation berichtet er von Annes Traum, einmal mit ihm eiszulaufen, doch es blieb beim Traum des Mädchens, das sich mit ihrer Familie von 1942 an in einem Hinterhaus in Amsterdam versteckt hielt und ihre Gedanken einem Tagebuch anvertraute.

Die Schauspielerin Sunnyi Melles diskutierte mit Schülerin Sinja Habbe und Direktor Armin Eifertinger im Werner-Heisenberg-Gymnasium. (Foto: Florian Peljak)

1944, nachdem sie verraten worden waren, kam sie mit ihrer Schwester erst nach Auschwitz, später nach Bergen-Belsen, wo beide Mädchen im Februar 1945 an den Folgen von Fleckfieber sterben. Elias, im Film bereits 86 Jahre alt, war schließlich Präsident der Anne-Frank-Stiftung in Basel und kümmerte sich dort um ihr Vermächtnis "für Frieden in der Welt zwischen den Religionen, den Nationalitäten, den Hautfarben".

Sunnyi Melles hat die illustrierte Lesung schon einmal gehalten, 2018 bei den jüdischen Kulturtagen in München. Sogar siebenjährige Kinder hätten zugehört und zugeschaut, denn die Zeichnungen aus dem Buch, illustriert von Ari Folman und David Polonsky, werden in einer LED-Show projiziert. Die Graphic Novel auf Grundlage des Tagebuchs der Anne Frank zeichne sich aus durch eine Kombination aus Originaltext und lebendigen, fiktiven Dialogen. Leonille Wittgenstein liest die Anne, ihre Mutter alle anderen Rollen. In Garching werden sie gleich zweimal auftreten: Am Montagmorgen erzählen sie die Geschichte vor 600 Schülern des WHG und auch aus der Max-Mannheimer-Mittelschule, am Abend gibt es eine zweite Vorstellung im Bürgerhaus.

Die Geschichte Anne Franks sei leicht verständlich, sagt Melles. Und sie biete eine andere Herangehensweise, eine andere Perspektive und einen direkten Bezug, betont Schülerin Sinja Habbe. Wenn etwas nur theoretisch behandelt werde, "dann ist es wie eine Physikformel". Melles stimmt zu: "Dann fehlt die Empathie."

Ihrer Meinung nach sollten die Schüler aus ihrem Familienleben erzählen, auch die Eltern müssten mit einbezogen werden. "Man muss den Koran lesen, in die Synagoge, die Moschee und in die Kirche gehen", sagt sie und fügt hinzu: "Integration heißt für mich auch, dass ich ganz viel über andere weiß über die Werte der anderen und ihre Religion."

Bei tausend Schülern aus 40 Nationen und 2000 Eltern glaubt Direktor Eifertinger jedoch, dass nicht alle offen dafür sind. "Da ist bestimmt eine Prozentzahl dabei, die länger braucht, sich für solche Prozesse zu öffnen", sagt er und betont seine neutrale Position. Ziel des WHG sei, dass die Kinder gerne zur Schule gingen und neugierig seien, und dass sie lernten, Empathiefähigkeit zu entwickeln. Sinja sieht schon alles integriert in eine Grundhaltung der Schüler. "Die Offenheit ist von Anfang an da", sagt sie. Fremdenfeindlichkeit habe sie selbst noch nie an der Schule erlebt und Extremismus und Ausgrenzung seien "gar kein Thema". Sie stimmt der Schauspielerin darin zu, dass Wissen wichtig sei. "Man kann nicht tolerant sein und akzeptieren, wenn man nichts weiß, aber auch nichts wissen, wenn man nicht tolerant ist."

Was kann das Graphic Novel nach dem Tagebuch der Anne Frank den Menschen mitteilen? (Foto: Alfred Strobel)

Wichtig sei, die Vergangenheit der Eltern und Großeltern nicht zu vergessen, das Wissen darüber in die Gegenwart mitzunehmen und dadurch in der jetzigen Zeit und in der Zukunft sich immer für den Frieden zu engagieren und ihn zu leben, sagt Melles. Sie erinnert auch an das hohe Gut der Meinungsfreiheit, die in Deutschland herrsche, sie sieht allerdings auch die Gefahr der Manipulation. In Diktaturen würden schon "unschuldigen Kindern Feindbilder vermittelt, anderen Menschen, die nicht nach ihrer Ideologie lebten, ihre Heimat und ihre Kultur zu zerstören". Sinja sieht auch eine Chance in der Vergangenheit. Man könne lernen aus dem, was passiert ist, und erkennen, dass Leute manipuliert wurden. Die Geschichte der Anne Frank sieht sie als Möglichkeit zu vermitteln, "wie es sich anfühlt, wenn man in einer solchen Situation war".

Die Schauspielerin Sunnyi Melles könnte sich auch noch Projekte für die Zukunft vorstellen. Sie berichtet vom Film "Kippa" von Lukas Nathrath. Er beruht auf der wahren Geschichte eines 14-jährigen Schülers, der Jude ist und in seiner Klasse mit Anfeindungen zu kämpfen hat. Direktor Eifertinger ist nicht abgeneigt, "aber wir brauchen da natürlich auch einführende Worte". Melles antwortet spontan: "Da komme ich gerne mit dem Regisseur."

Die öffentliche Lesung aus dem Graphic Diary der Anne Frank findet am Montag, 13. Januar, von 19 Uhr an im Bürgerhaus Garching statt. Karten kosten 15 Euro. Bereits um 18 Uhr eröffnen Hildegard Kronawitter, Vorsitzende der Weiße-Rose-Stiftung, und Bürgermeister Dietmar Gruchmann die Ausstellung über die Widerstandsgruppe der Weißen Rose im Bürgerhaus. Sie schildert die Entstehungsgeschichte, die Widerstandsaktionen sowie die Zerschlagung durch die NS-Justiz.

© SZ vom 11.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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